Die Amerikaner im Vorderen Westen
Am 2. April 1945, mehr als einen Monat vor der Kapitulation Deutschlands, begannen US-Truppen in die zur Festung erklärte Stadt Kassel einzudringen.
„Nach einem Zeitzeugen-Bericht des damaligen Abwehr-, Gerichts- und Ordonnanzoffiziers Dirk Uhse wird er in der Nacht vom 3. auf den 4. April vom Kommandierenden der „Festung Kassel“, Generaloberst Johannes Erxleben (1893–1972), als Parlamentär zum Befehlshaber der am südlichen Stadtrand stehenden amerikanischen Truppen entsandt, mit dem Auftrag, freien Abzug für die in Kassel befindlichen Wehrmachtseinheiten, zumindest aber für die Zivilbevölkerung zu erreichen. Als der amerikanische General ablehnt und ankündigt, „entweder würde kapituliert oder weiter gekämpft“, entscheidet Uhse – ohne Rücksprache mit Erxleben – zu kapitulieren.“ (Zeitgeschichte in Hessen)
Am 4. April übergab Generalmajor Johannes von Erxleben die Stadt an General H. L. McBride. Am 5. April war mit Bettenhausen auch der letzte Stadtteil von amerikanischen Truppen besetzt. Für die US-Militärregierung in Kassel spielte der Vordere Westen in der Besatzungszeit eine wichtige Rolle: Zum einen nutzte sie in dem von flächendeckenden Zerstörungen weitgehend verschonten Stadtteil wichtige Gebäude für einige ihrer Einrichtungen, zum anderen beschlagnahmte sie zahlreiche Wohngebäude zur Unterbringung ihres Personals.
Amerikanische Einrichtungen im Vorderen Westen
Im Wehrkreisgebäude (Generalkommando) richtete die Militärregierung für die US Army das „General Hospital“ ein, das mehr als zwei Jahre dort blieb, bis das Gebäude im September 1947 an die Stadt übergeben wurde, die dann das Stadtkrankenhaus dort unterbrachte.
Das Aschrott-Altersheim diente fortan für viele Jahre als „Hotel Waldorf“. Dieses warb unter der offenbar bei den Amerikanern geläufigen Bezeichnung als „glasshouse“ mit einer eigenen Ansichtskarte. Auf deren Rückseite bot sich das Hotel als ideale Zwischenstation für Amerikaner auf dem Weg von Bremerhaven in die im Süden Deutschlands gelegene amerikanische Besatzungszone an. Vom Hotel Waldorf, dem Glashaus, sendete bis 1957 auch der US-Soldatensender American Forces Network (AFN) und versorgte so seine Zuhörer im Raum Kassel, Rothwesten und Fritzlar mit dem Programm seines Frankfurter Senders. Auf der Ansichtskarte des Hotels sind die Masten des Senders offenbar zu erkennen.
Die Marie von Boschan-Aschrott-Stiftung kaufte 1951 das benachbarte Gebäude in der Pappenheimstraße 1 und baute dort ein neues Heim auf, erst 1958 erhielt sie den von Otto Haesler entworfenen modernen Bau zurück.
Der Kultur diente auch das nahezu unzerstörte Gebäude der Heinrich-Schütz-Schule. Hier betrieb die Besatzungsmacht das Kino „Liberty“, über das es in Kassel allerdings keine genaueren Informationen gibt.
Die US-Militärregierung hatte ihren Sitz zunächst im Schloss Wilhelmshöhe genommen, zog aber 1947 in das in der NS-Zeit errichtete Finanzgebäude an der Wilhelmshöher Allee 64. Hier befanden sich 1949 unter anderem die Büros des United States High Commissioner of Germany und des Land Commissioner of Hesse Kassel District Office, das Militärgericht, das Decartellisation Office, das Education Center mit einer pädagogischen Bücherei, CID und die Information Services Division.
Beschlagnahmter Wohnraum
Nach dem Tagebuch des von der Militärregierung eingesetzten Oberbürgermeisters Willi Seidel waren bei Kriegsende von 65.000 Wohnungen etwa 51.000 und damit ca. 80 Prozent zerstört. Bis Juli beschlagnahmten die US-Truppen von den noch verbliebenen Wohnungen ca. 1.400, wodurch das immense Wohnungsproblem verschärft wurde. Besonders hart betroffen war Oberzwehren, wo alle Bewohner der Mattenbergsiedlung quasi über Nacht unter Zurücklassung ihrer Möbel und Einrichtungsgegenstände ihre Häuser hatten räumen müssen, damit dort Tausende von Displaced Persons (DPs) untergebracht werden konnten. Das gleiche Schicksal traf wenige Monate später die Bewohner mehrerer Straßenzüge der Fasanenhofsiedlung. Auch hier zogen DPs in die geräumten Wohnungen.
Der Vorderen Westen war ebenfalls von Beschlagnahmen betroffen. Nach dem Verwaltungsbericht der Stadt für die Jahre 1945-1949 mussten im Mai 1946 180 Familien ihre Wohnung in der Goethestraße verlassen, damit sie von der Besatzungsmacht für Wohnzwecke genutzt werden konnten. Anders als am Mattenberg und der Fasanenhofsiedlung wurden diese Wohnungen aber bereits im Dezember 1947 wieder freigegeben. Länger betroffen war das „Villenviertel“ in Stadthallennähe. Die Karte zeigt die dort beschlagnahmten Wohnhäuser sowie das gleichfalls beschlagnahmte Aschrott-Heim.
Das Haus Raabestraße 3
Zu der amerikanischen Besatzungszeit gibt es in den örtlichen Archiven leider kaum Dokumente und interessanter Weise auch fast keine Fotos (zum Beispiel von amerikanischen Soldaten). Eine Ausnahme bildet die Beschlagnahme des Hauses Raabestraße 3. Es wurde am 14. April 1947 requiriert, wie eine Quittung im Stadtarchiv zeigt, die der Hauseigentümerin zugestellt wurde. Das Haus verfügte über zwei Wohnungen im Erdgeschoss und der ersten Etage sowie eine Dachgeschosswohnung. 1950 unternahm die Hauseigentümerin den Versuch, ihre Dachgeschosswohnung frei zu bekommen. In ihrem Schreiben an den zuständigen Commanding Officer der US Army vom 26. September heißt es:
„Hiermit stelle ich den Antrag, die in meinem Haus in Kassel, Raabestr. 3, leerstehende Dachgeschosswohnung bewohnen zu können. Das Erdgeschoss und die I. Etage werden von Angehörigen der Besatzungsmacht zu Wohnzwecken in Anspruch genommen. Als Begründung meines Antrags führe ich folgendes an: Ich bin Witwe und habe meinen gesamten Haus- und Grundbesitz bis auf das oben erwähnte Haus durch Kriegseinwirkungen verloren. Z. Zt. bin ich gezwungen mit meiner erwachsenen Tochter in einem Zimmer zusammen zu wohnen. Ausschlaggebend jedoch für das Vorbringen meiner Bitte ist der von oberster Instanz der Besatzungsmacht vertretene Wunsch eines harmonischen Zusammenlebens von Amerikanern und Deutschen. Meiner Ansicht nach gibt es keine besseren Möglichkeiten diesen Wunsch in die Tat umzusetzen, als zunächst einmal eine Grundlage hierfür zu schaffen, nämlich ein Zusammenleben zu ermöglichen und dieses dann auf verständnisvoller und harmonischer Grundlage auszubauen. (…)
Indem ich Ihrer baldigen Antwort entgegen sehe, zeichne ich
hochachtungsvoll“
Zwei Monate später kam die ablehnende Antwort:
„Grundsätzlich ist die gemeinsame Bewohnung von Quartieren durch U.S. und deutsche Personen nicht statthaft. Daher kann Ihrem Gesuch um Bewohnung eines Teils des beschlagnahmten Gebäudes nicht stattgegeben werden. Die Schwierigkeiten, dies sich für Sie aus der zeitweiligen Beschlagnahme ergeben, werden anerkannt. Es bleibt zu erwarten, dass solches Gut seinem Eigentümer sobald als möglich zurückgegeben wird.“
Möglich wurde das tatsächlich etwa vier Jahre später und mehr als sieben Jahre nach der Beschlagnahme. Im Mai 1954 erhielt die Eigentümerin vom Besatzungskostenamt die Mitteilung, dass ihr Haus nach Fertigstellung der bereits im Bau befindlichen Ersatzwohnungen für Angehörige der amerikanischen Streitkräfte freigeben werde. Die Rückgabe erfolgte dann im September.
Neue Wohnungen für die Besatzungsmacht
Zu dieser Zeit waren die ersten Wohnungen, die als Ersatz für die beschlagnahmten dienen sollten, nördlich der Stadthalle in der Breitscheidstraße 43-47 gebaut worden. In den Adressbüchern der Folgejahre gibt es zwar keine Angaben zu ihren Bewohnern, wohl aber in den Hausstandsbüchern.
Ein US-Soldat besucht seine Eltern
1951 besuchte der Soldat der US Army Peter Hofmann seine Eltern in der Kölnischen Straße 181, im Haus in dem er geboren und aufgewachsen war. Sein Vater Dr. Paul Hofmann stammt aus einer jüdischen Familie und war kurz vor seiner Hochzeit mit seiner evangelischen Frau Protestant geworden. Seit 1933 durfte er als Belegarzt im Rote-Kreuz-Krankenhaus dort keine Patienten mehr behandeln, 1938 entzog man ihm seine Zulassung als Arzt, nachdem er im Zuge der Novemberpogrome etwa vier Wochen im KZ Buchenwald inhaftiert worden war. Seit 1941 musste er Zwangsarbeit leisten. Dieses Schicksal teilte auch der Sohn Peter, der vom Herbst 1944 bis zum Kriegsende als „Halbjude“ von der Organisation Todt (OT) dem Lager Bähr in der Salzmannfabrik in Bettenhausen zugewiesen war und dort mit weiteren „Halbjuden“, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern sowie russischen Kriegsgefangenen inhaftiert war. Peter Hofmann überlebte, da es zu einer offensichtlich geplanten Deportation auch der „Halbjuden“ aus Kassel nicht mehr kam.
Nach dem Krieg war er für die Amerikaner im 175th General Hospital und dem Officers‘ Club des 368th Station Hospital als Rundfundmechaniker tätig. Im Januar 1947 stellten ihm amerikanische Offiziere entsprechende Bescheinigungen aus, die ihm bei seinem Vorhaben, in die USA zu gehen, behilflich sein sollten.
1947 wanderte Peter Hofmann tatsächlich in die USA aus, wurde dort 1951 zur Armee eingezogen und diente in Europa. Das Foto von ihm und seiner Mutter bei seinem Besuch in Kassel ist das einzige uns bekannte eines amerikanischen Soldaten im Vorderen Westen und stammt aus dem Besitz seines Sohnes Ken Hofmann.
Quellen und Literatur
Stadtarchiv Kassel: Tagebuch Willi Seidel | Adressbücher | A3.32 Hausstandsbücher | S3 Nr. 0668 (Beschlagnahme Raabestraße 3) | Verwaltungsbericht der Stadt Kassel 1945-1949
„Einnahme von Kassel durch die US-Armee, 4. April 1945“, in: Zeitgeschichte in Hessen
https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/891
Wie die AFN-Sender Kassel entstanden …
https://fox12.de/geschichte-und-geschichten/sender-afn/