Die neue Frauenbewegung
Das Frauenzentrum
In den 1970er Jahren zog ein neuer Geist der Zeit in die Goethestraße 67 ein. Mit einem Fest weihte die neu entstandene autonome Kasseler Frauenbewegung im Februar 1976 ihr Frauenzentrum in den Parterreräumlichkeiten zur Pestalozzistraße hin ein, die sich aber schon bald als zu klein erwiesen und zu einem Umzug in die Nähe, in das Haus Goethestraße/Ecke Reginastraße, führten, wo sich noch heute das Frauen- und Lesbenzentrum befindet. Von hier aus initiierten Frauen wichtige Projekte - zum Beispiel das Frauenhaus oder das Frauenmagazin „Krampfader“. Themen der Zeit waren vor allem der Paragraph 218, Sexualität, Lohn für Hausarbeit, Gewalt gegen Frauen, Benachteiligung von Mädchen und Frauen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen. Im Frauenbuchladen Aradia in unmittelbarer Nähe des Zentrums in der Reginastraße konnten sich allein Frauen über all dies bestens informieren. Er zog später in die Pestalozzistraße, heute gibt es ihn nicht mehr
Die Goethestraße im Vorderen Westen war bereits vorher - zumindest zweitweise - die Heimat von zwei herausragenden Kämpferinnen für Gleichberechtigung: Nora Platiel wohnte in den 1950er Jahren in der Goethestraße 150, später wenige Häuser weiter in der Goethestraße 130, wo die 1896 in einer jüdischen Kaufmannsfamilie geborene Sozialistin, Juristin und Politikerin 1979 starb. Der im Krieg ausgebombten Elisabeth Selbert, gleichfalls Juristin und Politikerin, eine der wenigen Mütter des Grundgesetzes und Hauptverantwortliche für die Formulierung eines strikten Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz, wurde nach dem Krieg eine Wohnung in der Goethestraße 74 - nicht weit vom Goethestern - zugewiesen: Treffpunkt für den politischen Neubeginn in Kassel.
Die Anfänge einer neuen Frauenbewegung lagen in Kassel bei Studentinnen der Gesamthochschule. 1975 trat sie bei einer Demonstration gegen den § 218 zum ersten Mal öffentlich in Erscheinung. Unter dem Slogan: „Das Private ist politisch“ ging es ihr um „Selbsterfahrung, Selbsthilfe und Selbstreflexion über die Situation der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft“. Mit den Räumlichkeiten in der Goethestraße 67 verfügten Frauen, die sonst in Kleingruppen arbeiteten, seit dem März 1976 über eine zentrale Einrichtung. Für deren Besuch warben sie 1976 in einer Broschüre:
Warum Frauen sich mit Frauen treffen und in Frauengruppen organisieren
Wir haben die Erfahrung gemacht, daß wir freier über uns Frauen reden können, wenn wir unter uns sind. Wenn Männer dabei sind, ergreifen die fast immer das Wort und wir haben gelernt, auf sie einzugehen und uns selber zurückzustellen. Wir nehmen uns und unsere Probleme nicht wichtig, „denn Frauen können sowieso nur tratschen und haben nichts Wichtiges zu sagen.“ Oft auch trauen wir uns nicht, wenn Männer dabei sind, zu reden, weil viele Männer sich besser ausdrücken können. Wir kommen uns dumm und minderwertig neben ihnen vor.
Seit unserer Geburt ist uns eingeredet worden, daß eine Frau ohne Mann nichts wert ist. „So alt und hat noch keinen Mann abgekriegt.“ In Frauengruppen erfahren wir, daß auch Kontakt und Freundschaft zu Frauen einen Wert haben; daß wir andere Frauen nicht nur als Konkurrentinnen um Schönheit und die Gunst der Männer betrachten, sondern mit ihnen lachen, Spaß haben, schnuddeln, spazierengehen, feiern, ernsthaft und gut reden und teilweise auch zusammenleben können.
Indem wir in Frauengruppen unsere Erfahrungen austauschen, sehen wir, daß unsere Probleme keine Einzelprobleme sind, sondern daß in unserer männerbeherrschten Gesellschaft alle Frauen benachteiligt sind, wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise.
Wenn wir darauf hoffen, daß diese Unterdrückung durch männerbeherrschte Parteien, Gewerkschaften und Verbände abgeschafft wird, können wir lange warten. (Was hat z. B. das Jahr der Frau geändert?) Darum haben wir angefangen, uns zu organisieren:
Im Frauenzentrum - nur mit Frauen. Das hat nichts mit „Männerfeindlichkeit“ zu tun. Uns geht es darum, die Frauenfeindlichkeit, wo immer sie uns in unserem Alltag begegnet, bewußt zu machen und zu bekämpfen. („Informationen für Frauen von Frauen“ des Frauenzentrums, 1976)
Das Denkmal für die unbekannte Deserteurin / Saboteurin und der "Platz der widerstandleistenden Frauen"
Es gab heftige Auseinandersetzungen, als zur Walpurgisnacht 1991 Frauen aus der autonomen Frauen- und Lesbenszene sich den heutigen „Goethestern“ aneigneten, ein feministisches Denkmal auf dem noch immer kahlen Oval errichteten und den Ort in „Platz der widerstandleistenden Frauen“ (um)benannten. Dass die Frauenbewegung eine „brachliegende“ Fläche im Vorderen Westen in Besitz nahm, ein Denkmal errichtete und den „Platz“ benannte (er hatte ja eigentlich keine offizielle Bezeichnung), entsprang einer ganzen Reihe von Motiven. Mit Recht beklagte ihre Sprecherin in einer Ortsbeiratssitzung, dass in Kassel nur eine verschwindende Minderheit von Straßen oder Plätzen nach Frauen benannt seien (vgl. dazu auch Wolfgang Matthäus (Hg), Wege von Frauen. Kasseler Straßennamen, Geschichte und Geschichtspolitik) und kannte aus eigener Erfahrung kein Denkmal für eine Frau oder eine Frauengruppe in Kassel. Darüber hinaus war die Walpurgis-Aktion 1991 auch aus ganz aktuellem Anlass geboren. „Damals wurde ein ca. 2,50m mal 1,50m großes Loch auf dem ‘Goethestern’ gegraben. Ein Betonsockel gegossen und eine forsch voranschreitende Frau, aus Metall kreiert, fand ihren Platz auf dem Sockel. Mit Kreistänzen, Sekt und einem damals noch existierenden FrauenLesbenChor ‘Klara Klang’ dargebotenen Ständchen weihten etwa 60 bis 80 FrauenLesben das Denkmal an Walpurgisnacht 1991 (30. April) ein.“ (30 Jahre Kasseler FrauenLesbenZentrum, S. 40)
In Krampfader 4/1991 heißt es im Einzelnen:
Die Idee zum Bau des FrauenwiderstandsDenkmals und der Platzumbenennung in „Platz der widerstandleistenden Frauen“ wurde in den Auseinandersetzungen um und den Aktionen gegen den Golfkrieg entwickelt. Es sollte nach Vorstellung der Erfinderinnen und Künstlerinnen ein Denkmal werden, daß die üblichen Motive des Denkmal-Baus wie Heldentum, Ruhm, Profilierungssucht und Männerkult radikal in Frage stellt.
Es sollte ein Denkmal für die unzähligen Frauen sein, die in diesem Jahrhundert weltweit gegen Militarismus, Rassismus und Sexismus und alle anderen Formen von Unterdrückung, Menschenverachtung und Gewalt im öffentlichen und privaten Bereich angetreten sind.
Gleichzeitig sollte dieses Denkmal Frauen dazu ermutigen, nicht länger einer Ideologie aufzusitzen, die sie selbst entwertet, sondern selbstbestimmte Wege zu gehen, die ihren Ausdruck auch in einer Vielzahl von Lebensformen jenseits der Institution Ehe haben. Wir finden, es ist in diesem Denkmal gut gelungen. Zu unseren Forderungen und Vorstellungen (…):
Die Platzgestaltung soll einer Künstlerinnen-Planerinnengruppe übertragen werden, die das Widerstandsdenkmal als einen festen Bestandteil in das Gesamtkonzept des kleinen Platzes aufnimmt.
Dem Magistrat der Stadt Kassel liegt ein Antrag autonomer Frauengruppen vor, dem Platz offiziell die Bezeichnung „Platz der widerstandleistenden Frauen“ zu geben und den Platz entsprechend zu beschildern.
Der Magistrat soll Mittel zur Erhaltung des Denkmals zur Verfügung stellen.
Mit dem gleichzeitigen Abbau von - inzwischen - zwei Kunstwerken auf dem Platz 1993 waren alle Bemühungen der Frauengruppen erfolglos geblieben in einer Auseinandersetzung, die vor Ort äußerst heftig ablief und auch überregional wahrgenommen und kommentiert wurde - nicht nur in feministischen Medien. Daran änderte auch die erneute Aktion nichts, mit der zu Walpurgis 2000 wiederum ein Denkmal - diesmal auf dem leeren Denkmalsockel - errichtet wurde, „Zur Erinnerung an die Ermordeten, vergewaltigten Lesben, Frauen, Mädchen, Jungen“. Es sollte an das erste erinnern und den Finger auf die Wunde sexualisierter Gewalt legen. Bereits wenige Wochen später war auch das zweite Denkmal zerstört.
Weitgehend entnommen aus: Wolfgang Matthäus (Hg.), Plätze im Vorderen Westen. Geschichte(n) eines Kasseler Stadtteils, Kassel 2010.