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Familie Lieberg und der Messinghof in Bettenhausen

Die Geschichte der Familie Lieberg ist untrennbar mit dem Messinghof in Bettenhausen verbunden. Einige der Familienangehörigen wohnten im Vorderen Westen: Carl Lieberg von 1919 bis 1939 in der Parkstraße 33, danach bis zu seinem Tod 1940 in der heutigen Goethestraße 13; sein Neffe Wilhelm mit seiner Familie von 1922 bis 1926 in der heutigen Friedrich-Ebert-Straße 78, danach bis 1935 im eigenen Haus in der Lessingstraße 18.

Die Familie Lieberg stammte aus der Wolfhagener Gegend. Aus der Kleinstadt war Wolf Lieberg nach Kassel gekommen, wo er ein Jahr später den Messinghof erwarb – einen 1679 von Landgraf Carl errichteten, schlossähnlich gestalteten protoindustriellen Monopolbetrieb. In diesem wurde Kupfer und Messing verarbeitet, unter anderem das Wahrzeichen Kassels, die Statue des Herkules gefertigt. Der preußische Staat privatisierte nach der Annexion Kurhessens 1866 die Mühlen an der Losse und damit auch den Messinghof. Dort produzierte von nun an das Unternehmen Lieberg & Co. in der Tradition der Metallverarbeitung.

Carl Lieberg

Zu Wolf Liebergs elf Kindern gehörten die 1850 geborene Tochter Henriette, die 1873 Alexander Fiorino heiratete, die Söhne Moritz (geb. 1851) und Carl (geb. 1861), der in den 80er Jahren nach Südafrika ging, dort lebte und arbeitete, während sein Bruder seit 1878 eine verantwortliche Position als Kommanditist im Unternehmen, dem „Kupferwalz- und Hammerwerk“, später „Metallwerke Lieberg“, einnahm. Carl Lieberg kehrte mit dem Tod des Vaters 1889 nach Kassel zurück und war zusammen mit seinem Bruder geschäftsführend im Unternehmen tätigt. Wie andere ledige oder verwitwete Familienmitglieder wohnte er auch auf dem Messinghof.

Ende 1918 zog sich Carl Lieberg aus der Geschäftsführung des Unternehmens zurück und lebte als „Privatmann“ in der Parkstraße 33 im Vorderen Westen. Als sein Bruder Moritz 1927 starb, wurde dessen Sohn Wilhelm Inhaber und Ge­­schäfts­führer des Betriebes, der Metalle aller Art verarbeitete und unter anderem auch als Zulieferer für die Fahrradindustrie tätig war. Ende der 20er Jahre waren auf dem Messinghof etwa 140 Menschen beschäftigt, die vor allem das Markenzeichen der „Metallwerke Lieberg & Co. G.m.b.H. Kassel-Bettenhausen“, den nahtlosen „Herkules-Kup­fer­kessel“, produzierten. Ein  Verwandter, der Schweizer Kurt Kaufmann, war inzwischen Teilhaber und Mitgeschäftsführer geworden.

Als Carl Lieberg im August 1939 in das Haus seines Schwagers Alexander Fiorino zog, hatte er bereits ein Jahr zuvor sein Vermögen angeben müssen, weil er angeblich auswandern wollte, wie die Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten schrieb. Dass er dies verneinte und entgegnete: „Ich bin Junggeselle, nahezu 78 Jahre alt, kränklich“ änderte nichts an dieser Aufforderung und dann daran, dass er über das angegebene Vermögen nun nicht mehr frei verfügen konnte - auch über seine Kunstsammlung mit etwa 400 Werken nicht. „Zum Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung“ hatte Dr. von Lepell von den Staatlichen Kunstsammlungen Liebergs Sammlung eingehend besichtigt, erfasst und geschätzt. Im September 1939 wurde sie wie sein übriges Vermögen einer Sicherungsanordnung unterworfen. Bei seinem Tod im Mai 1940 befand sich die Sammlung in Verwahrung der Staatlichen Kunstsammlungen, die sie offenbar bis zum April 1941 versteigerten und dabei 40.000 RM erlöst haben sollen. Noch heute befinden sich Teile der Sammlung im Besitz der Museumslandschaft Hessen Kassel.

Hertha, Marion, Ralf und Wilhelm Lieberg

Der 1893 geborene Wilhelm Lieberg war seit 1922 mit der 1898 in Berlin geborenen Hertha geb. Hersch verheiratet und hatte mit ihr die 1924 geborene Tochter Marion sowie den 1927 geborenen Sohn Wolfgang, der zwei Jahre später starb. Im Mai 1933 kam ihr Sohn Ralf Michael zur Welt. Die wohlhabende Familie pflegte einen "gutbürgerlichen Lebensstil."

Verfolgung und Enteignung

Seit dem Beginn ihrer Herrschaft hatten die Nationalsozialisten offenbar die Metallwerke Lieberg und ihre Eigentümer im Visier.  Bereits 1933 kehrte der Teilhaber Kurt Kaufmann in die Schweiz zurück. „Seiner Rückkehr steht nichts im Wege“, schrieb der Regierungspräsident in Kassel an das Ministerium des Inneren, nachdem sich die Schweizer Gesandtschaft an das Außenministerium in der Sorge um das Wohl und die Sicherheit ihres Staatsangehörigen gewandt hatte. Hintergrund dieser Sorge war, dass ein Mann der Familie unter dem Vorwurf der Beziehung zu „deutschen Mädchen“ Opfer brutaler rassistischer Ausschreitungen geworden war. In einem Schreiben des Regierungspräsidenten hieß es: „Der jüdische Mitinhaber der Firma Lieberg & Co., Wilhelm Lieberg in Kassel wurde von der erregten Menschenmenge am 26. August durch die Straßen der Stadt geführt“.  (…) „Um Lieberg vor dem Ausbruch der Volkswut zu schützen, musste Schutzhaft über ihn verhängt werden, die nach 2 Tagen – am 28.8. – wieder aufgehoben wurde.“

Wilhelm Lieberg wurde im Zuge des Novemberpogroms 1938 in wie ca. 250 jüdische Männer aus der Region in Buchenwald inhaftiert. In seiner Haftzeit wurde der inzwischen alleinhaftende Gesellschafter der Metallwerke, Kurt Kaufmann, zum Verkauf  des Unternehmens gezwungen. Andere Mitgesellschafter waren bereits emigriert, die meisten Angehörigen der weitverzweigten Familie ins Ausland geflohen, weil man ihnen die Lebensgrundlagen in Deutschland entzogen hatte. Weit unter Wert wechselten die Metallwerke Lieberg ihre Besitzer.

Rettung durch den Kindertransport: Marion Lieberg

Marion Lieberg war es in Deutschland nicht mehr möglich, die übliche Schullaufbahn einzuschlagen und zu beenden oder eine Ausbildung zu absolvieren. Der tänzerisch begabten Tochter der Familie blieb eine entsprechende Ausbildung in Kassel verwehrt, sie begann eine solche dann in Berlin, konnte sie aber nicht beenden. Nach dem Schock der Novemberpogrome, besonders der Inhaftierung ihres Vaters im KZ Buchenwald, und der Enteignung der Familie gelang es der Familie, sie im Mai 1939 mit einem Kindertransport ins rettende England zu bringen. (siehe auch den Beitrag zu Dorrith Sim)

Deportation und Ermordung

Der zurückgebliebenen Familie blieb nur das Foto von Marion. Es gelang ihr nicht mehr, gleichfalls ins Ausland zu gelangen. Im Krieg musste Wilhelm Lieberg zwangsweise als einfacher Arbeiter im ehemals eigenen Betrieb arbeiten. Hertha, Ralf und Wilhelm Lieberg gehörten zu den mehr als 500 Menschen aus der Region, darunter etwa 100 aus Kassel, die am 1. Juni 1942 mit dem Sonderzug „DA 57“ vom Hauptbahnhof in den Osten deportiert wurden. Der Zug erreichte zunächst Lublin, wo die Männer zwischen 15 und 50 Jahren, darunter Wilhelm Lieberg, aus dem Zug geprügelt und ins Konzentrationslager Majdanek getrieben wurden. Von ihnen sollte ein einziger überleben. Unter der Häftlingsnummer 101177 wurde Wilhelm LiebergsTod am 8. September 1942 in Majdanek "registriert". Seine Frau Hertha und seinen Sohn Ralf hatte der Deportationszug am 3. Juni 1942 in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt, wo sie bereits wenige Stunden nach dessen Ankunft wie alle Deportierten vergast wurden.

Quellen und Literatur

StadtA Kassel: Einwohnermeldekartei | A 5.55.145 | Bestand INN 11819

Archiv Ernst Klein (Volksmarsen)

Archiv Heidi Sieker (Kassel)

Archiv Monica Kingreen (zur Deportation nach Lublin/Sobibor)

HStAM Best. 165 Bl. 482ff.

HHStAW Best: 518 Nr. 11491 (Entschädigungsakte W. Lieberg)

Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014

Klaus-Peter Wieddekind, Der Messinghof mit den Firmen Lieberg & Co. und Metallwerke Imfeld & Co.

Fotos

Alle Fotos stammen von der Webseite des Fritz Bauer Instituts: "Vor dem Holocaust – Fotos zum jüdischen Alltagsleben in Hessen". Unter den Menupunkten Ort und Alben der Familien gibt es noch zahlreiche weitere der Familie.

Wolfgang Matthäus