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„Fluchthilfe“ als jüdische Selbsthilfe und Gegenwehr

Frieda Sichel (geb. Gotthelft), die in der Malsburgstraße wohnte, erkannte schon sehr früh, dass die Lage für die jüdische Minderheit in Deutschland mit dem Beginn der NS-Herrschaft äußerst bedrohlich war und wohl untragbar werden könnte. Sie war eine der erste Abiturientinnen und Studentinnen in Kassel, in Nationalökonomie promoviert und in den 1920er Jahren über die Familie hinaus vielfältig öffentlich tätig als Wissenschaftlerin, in der Sozialarbeit, als Journalistin und Publizistin, in der Frauenbewegung, innerhalb und außerhalb der jüdischen Gemeinde. Leo Baeck, Präsident der „Reichsvertretung der Deutschen Juden“, berief sie 1933 zur Provinzial-Fürsorgerin in Hessen.

In ihren Lebenserinnerungen beschreibt sie die jüdische Gegenwehr, an der sie sich aktiv beteiligte:

„Von den allerersten Tagen des Hitler-Regimes an wurde ich Zeugin von Ausschreitungen gegenüber Juden. (…) Bei den Geschehnissen handelte es sich auch nicht um Auswüchse böser Streiche, sondern es war ganz offensichtlich eine organisierte Bewegung am Werk, die sich wie eine Lawine von schutzlosen kleinen Ortschaften in größere Städte bewegte – und zwar in dem Moment, wo sich ihre kriminellen Mitglieder sicher waren, dass die Umwelt stillschweigen würde. (…)
Jetzt war ich überzeugt, dass die Zeit, Reden zu halten, vorbei war und dass ich im Verborgenen in einer Art „Untergrundarbeit" tätig sein musste.
Der Boykott vom 1. April hatte bei den Juden eine panische Flucht ausgelöst und zwar hauptsächlich von den kleinen Ortschaften in die größeren Städte hinein und schließlich auch über die Staatsgrenzen hinweg. Um mit dieser völlig neuen Situation fertig zu werden, gründete eine Handvoll Juden zögernd "Beratungsstellen für Wirtschaftshilfe und Aufbau“
[Gelenkt vom ‚Zentralausschuss für Hilfe und Aufbau‘, W.M.].  Ohne jegliche vorherige Erfahrung, die uns hätte leiten können, begannen mein enger Freund, der Rechtsanwalt Leo Oppenheim und ich ein Umschulungsprogramm für hochqualifizierte Juden. Sie wurden zu Handwerkern, Tischlern, Friseuren, Bauern und Konditoren ausgebildet; Angehörige dieser Berufssparten wurden von den anderen Ländern bereitwilliger aufgenommen. Der breite jüdische Mittelstand, also die Menschen, die in Handel, Industrie und akademischen Berufen tätig waren, mussten erkennen, dass die Welt mit Vertretern ihrer Sparten gesättigt war. Die Gesellschaften außerhalb Deutschlands wollten oder brauchten keine Angehörigen dieser Berufsstände mehr, die nur die Zahl der ohnehin schon in ihren Reihen lebenden jüdischen Ärzte, Rechtsanwälte und Apotheker erhöht hätte.
Unauffällig eröffneten wir in kleinen Ortschaften Hachschara-Zentren, wo Anwälte, Mediziner und Künstler, aber hauptsächlich Studenten, die der Universitäten verwiesen worden waren, etwas über Ackerbau erfahren und auch die hebräische Sprache lernen konnten; dies sollte sie auf ihre Einwanderung in Palästina vorbereiten. Wir organisierten auch Fremdsprachenkurse. Die Männer und Frauen am Ruder der kommunalen jüdischen Organisationen sahen sich jeden Tag mit neuen Problemen konfrontiert, die von keiner früheren Generation auch nur erahnt worden wären. Die Tatsache, dass ihre eigene Freiheit auf dem Spiel stand, kam ihnen niemals in den Sinn. Bis zum bitteren Ende zeigten diese leitenden Persönlichkeiten Würde, Furchtlosigkeit und Weitblick. Ihr Beispiel an Stolz und Entschlossenheit rettete das deutsche Judentum vor dem totalen Zusammenbruch.“

Das Berufsverbot für ihren Mann Karl Hermann Sichel und ihre eigene Bedrohung durch die Gestapo, zwang Frieda Sichel, 1935 mit ihren Kindern Anna und Gerhard nach Südafrika zu emigrieren.