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Zionismus und Jugend-Alija

Die zionistische Bewegung, die auf einen unabhängigen jüdischen Staat zielte, war vor allem in Osteuropa seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stark verankert. In Deutschland und auch in Kassel spielte sie innerhalb des Judentums nur eine geringe Rolle, auch wenn hier der Herausgeber der Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Kurhessen und Waldeck, Sally Kaufmann, Zionist war und seine Zeitung der zionistischen Idee einigen Raum gab.

Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft erhielten die zionistischen Vereine in Deutschland einen Zuwachs auf etwa 45.000 Mitglieder, darunter viele Jugendliche, für die sie zu einer Heimat und einem Ort der Selbstbehauptung gegenüber der eingetretenen Diskriminierung und Entrechtung wurden. Ruth Wertheim (später Baer), war seit 1928 Schülerin der Malwida von Meysenbug-Schule (heute Heinrich-Schütz-Schule) und verließ diese 1934, weil sie keine Hoffnung mehr hatte, ihre Schulzeit mit dem Abitur zu beenden. In ihren Erinnerungen heißt es:

„Ich besuchte etwa 3 Jahre den Nachmittagsunterricht der jüdischen Gemeinde, da ich aus einem sehr assimilierten Haus kam und plötzlich erkannte, dass ich Jüdin bin, ohne zu wissen, was Jude sein bedeutet. Dort lernte ich hebräisch lesen und etwas jüdische Geschichte und Gebete. Ich war ab 1933 Mitglied im ‚Hechaluz‘ und einem jüdischen Jugendbund ‚Werkleute‘, wo ich auch sehr aktiv als Führerin Gruppen leitete. [Die haben] mir die Leere ersetzt und einen neuen Lebensinhalt gegeben. Ich wollte am liebsten nach Palästina gehen, aber meine Mutter bestand darauf, daß ich erst einmal nach England gehe, um die Sprache zu lernen, und dort ermöglichten es mir Verwandte, eine Ausbildung als Kindergärtnerin und Montessori-Lehrerin zu haben, was mir auch später im Leben sehr geholfen hat.“ (Brief an den Verfasser 1983)

Ruth Wertheim konnte 1938 von England aus mit einem Kapitalisten-Zertifikat nach Palästina reisen und ein Jahr später ihre Mutter nachholen. In Palästina studierte sie Englisch und arbeitete danach als Englischlehrerin. 1941 heiratete sie und wurde Mutter von zwei Töchtern. Am Ende ihres Briefes heißt es „Leider haben wir hier keine friedliche neue Heimat gefunden, und ich fürchte sehr für die Zukunft meiner Familie.“ Sie lebte in Haifa.

Wie jüdische Mitschülerinnen sah Getrud Oppenheim in dem Eintreten für den zionistischen Gedanken eine Erfüllung. Sie schrieb in ihrem Lebenslauf zum Abitur 1934:

„Immer mehr erkannte ich, dass nur aufbauende Arbeit mein Leben erfüllen kann. Ich schloss mich der zionistischen Bewegung an, die die Wiedervereinigung der in der Welt verstreuten Juden in Palästina zum Ziel hat. Hier fand ich bald mein eigentliches Betätigungsfeld, das mich völlig erfüllt. Ich leite eine Gruppe von acht bis zehn Kindern im Alter von etwa dreizehn Jahren. Ich sehe meine Zukunft darin, der zionistischen Idee zu dienen. Ich habe die Absicht, in Palästina als Leichtstromelektrikerin zu arbeiten. (…)

In das Reifezeugnis bitte ich einen Vermerk über mein jüdisches Religionsbekenntnis aufzunehmen.“

Die Tochter des vermögenden Inhabers der Rosshaarspinnerei, Viktor Karl Oppenheim, ging 1937 nach Palästina und lebte dort als Raya Livne. Ihren Eltern und den beiden Brüdern gelang es gleichfalls rechtzeitig, Deutschland zu verlassen.

Auch Lotte Dalberg (später Gammon) besuchte die Malwida von Meysenbug-Schule im Vorderen Westen. Sie trat 1930 in die Schule ein und verließ diese 1934 mit dem Abiturzeugnis. Sie emigrierte nach Palästina. In Deutschland gehörte sie zur deutsch-jüdischen Jugendbewegung "Kameraden", von der sich 1932 die Gruppe der "Werkleute" (zionistische Tendenz) abgespalten hatte. Diese Gruppe gründete den Kibbuz der Werkleute, heute Hasorea. Lotte Dalberg lebte bis kurz nach dem Weltkrieg im Kibbuz, ging dann zu ihren Eltern nach Kalifornien (USA), studierte Chemie und wurde Lebensmittelchemikerin.

Ilse Oppenheim lebte mit ihren Schwestern Ruth und Alice und ihren Eltern Meta und Albert in der Hohenzollernstraße im Vorderen Westen und besuchte die Malwida von Meysenbug-Schule von 1930 bis zum September 1935. Während es ihr und den beiden Schwestern gelang, nach Palästina zu entkommen, wurden die Eltern wie auch ihr Onkel Julius am 9. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Albert und Julius Oppenheim starben im dortigen Ghetto, Meta wurde noch von Riga in das KZ Stutthof deportiert, wo sie offensichtlich bei der Ankunft am 1. Oktober 1944 ermordet wurde.

In einem Brief aus Kfar Mordechai (Israel) vom 20. Februar 1983 an den Verfasser beschreibt sie, wie sie mit der Jugend-Alija nach Palästina gelangte und unter welchen Bedingungen Jugendliche dort lebten.

Aus dem Brief von Ajalah Silber (Ilse Oppenheim)

 „Ich war schon ziemlich früh in einer zionistischen Jugendbewegung. Mein ganzes Be­streben war, nach Israel zu kommen, um beim Aufbau eines neuen jüdischen Staates mit­zuhelfen, in dem Land, welches uns der Bibel nach Gott geboten hat. Das Land unserer Stammväter und Ahnen - Israel!
„Als ich aus der Schule kam, schrieb ich mich, ohne das Wissen meiner Eltern, zur „Jugend-Alijah" ein. Das waren Gruppen jüdischer Kinder von 15 -17 Jahren, die man zusammenstellte, um sie zur Rückkehr nach, Israel vorzubereiten. Die Engländer regierten in Israel und die Zahl der Zertifikate war sehr begrenzt.
Jede Gruppe musste für 4 - 6 Wochen oder länger in ein Lager, wo man uns auf unser neues Leben vorbereitete. Das Lager befand sich auf einem Bauernhof, und wir verwöhn­ten kleinen Kinder arbeiteten dort und lernten die neue Hebräische Sprache, jüdische Ge­schichte usw. Das brachte uns als Gruppe zusammen.
Schon damals waren die Landesgrenzen geschlossen und viele konnten keine Zertifi­kate bekommen. Ich war unter den Glücklichen, die es erhielten. Doch nun kam das Schwerste, es meinen Eltern mitzuteilen. Natürlich ahnten sie schon damals, dass es für Ju­den keine Zukunft mehr in Deutschland gab. ...
...Man konnte das Haus schon nicht mehr verlassen. Alle deutschen Freunde, Bekann­te, Nachbarn verpönten uns als Juden, wir wurden angespuckt, boykottiert. So waren mei­ne Eltern schweren Herzens einverstanden, mich nach Israel zu schicken. …
So kam der Tag der Abfahrt aus Kassel, nie werde ich den Abschied am Kasseler Bahn­hof vergessen. Wir waren drei Kinder, die auswanderten. Meine Eltern und Geschwister begleiteten mich, ich ging zwischen Vati und Mutti auf und ab und Vati weinte, so wie ich ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Ich hielt mich zusammen mit Mutti tapfer, er weinte und konnte nicht aufhören, bis ich in den Zug stieg und wir losfuhren. Mein Vater lief nach und weinte, er wurde immer kleiner, bis er verschwand - für immer. Da saß ich allei­ne im Zug- alles brach aus mir aus: Warum? Meine so schöne Kindheit, mein Elternhaus - alles verschwand auf ewig.
Wir jungen Kinder empfanden damals sicher alle dasselbe. Da fuhren wir durch halb Europa nach Triest - einer neuen Zukunft entgegen. Dort bestiegen wir das Schiff, das uns nach Israel brachte.
... Als ich von weitem schon die Küste Israels sah, war es für mich wie eine neue Welt - eine neue Heimat. Zuerst begrüßte uns eine Gesandte unseres zukünftigen Kibbuz und gab jedem einen neuen hebräischen Namen. Zwei Jahre blieben wir dort und lernten He­bräisch, Landeskunde, jüdische Geschichte, die Bibel, Zionismus und alles über die Grün­der und Führer des Landes. Es war für uns interessant und mitreißend, wir lernten, das Land und die Menschen zu ehren und zu lieben.
Nach dem Lernen gingen wir bis abends arbeiten, meistens verrichteten wir Landar­beit. Es war neu und machte viel Spaß und wer von uns hatte schon jemals körperlich gearbeitet? Damals gab es noch viele Araber im Land und schon bald, 1937, brachen die Unruhen aus. Jeder Weg wurde unsicher, sie legten Minen, schossen auf den Verkehr, über­fielen die Siedlungen, und es gab schon damals Opfer.
... Der größte Teil des Landes war nicht bebaut, im Süden die Wüste, sonst Steine und Sümpfe. Unser Ziel war die Neubesiedlung, der Neuaufbau, aber nie war es ruhig. ... Unser neuer Platz lag am Chula-See (heute schon ausgetrocknet). Ringsum waren Sümpfe und niemand von uns blieb von der Malaria verschont. Wir lernten Fischen und auch ich als junge Frau fuhr mit den Männern auf den See. Es war gefährlich, denn immer wurde auf uns geschossen. Auch arbeitete ich in Sodom am Toten Meer bei einer Hitze von 45 - 50° C. Wir wohnten dort unkomfortabel in Zelten, aber wir waren jung und arbeite­ten auf ein gemeinsames Ziel hin. Geld war überhaupt nicht wichtig, was brauchten wir schon! Viele Lieder wurden gesungen, nur eins begleitete uns als Schatten des Gedenkens an die Eltern und all das, was wir in Deutschland verlassen hatten.
Die Zeit verrinnt schnell und jetzt leben wir ganz anders, aber immer noch herrscht kei­ne Ruhe. Wir haben nur ein Bestreben, wir wollen endlich einmal friedlich leben wie alle anderen Völker.
... Für uns in Israel gibt es jedes Jahr den Gedenktag an die 6 Millionen, die damals umkamen. Nie werden wir das vergessen - wir Kinder und Kindeskinder - nie !“