Skip to main content

"Wohnungsarisierung"

Seit 1939 konzentrierten städtische Ämter die jüdische Bevölkerung der Stadt und dann auch vom Land Vertriebene in einer Reihe von Häusern. Im Vorderen Westen waren dies u. a. die Häuser Admiral-Scheer-Straße 13 (vorher Kaiserstraße, heute Goethestraße), Kaiserstraße 59 (Goethestraße) und Querallee 21.

Das machte u. a. ein Gesetz vom April 1939 möglich, das jeglichen Schutz für jüdische Mieter aufhob. Gerichte hatten bereits vorher schon oft festgestellt, dass die außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stehenden Juden dementsprechend auch keiner Hausgemeinschaft angehören konnten und deshalb aus ihren Wohnungen vertrieben werden konnten. Im Frühjahr erhielten die Wohnungsämter im ganzen Reich die Aufforderung, Juden in bestimmten Wohnvierteln, besser aber noch in „Judenhäusern“ zu konzentrieren. Hier schien den Verfolgern „die Kontrolle der Juden durch das wachsame Auge der gesamten Bevölkerung (…) besser, als wenn Sie Juden (…) in einem Stadtviertel haben“, wie Barkei zitiert. Den Wohnraum der Juden beschränkten die Wohnungsämter auf ein Minimum. Familien wurden in gemeinsame Wohnungen eingewiesen, mehrere Einzelpersonen hatten mitunter ein Zimmer zu teilen. Die Vertreibung jüdischer Mieter machte „Volksgenossen“, die in die frei werdenden Wohnungen einzogen, unmittelbar zu Nutznießern der Judenverfolgung.

Das Ehepaar Jenny und Siegfried Fraenkel - als Beispiel für viele Betroffene - musste infolge dieser Maßnahmen am 1. September 1939 zwangsweise seine Wohnung in der Wilhelmshöher Allee räumen und unfreiwillig in die Kaiserstraße ziehen – im Alter von 75 und 81 Jahren. In dem Haus, in dem sie bis 1932 in einer geräumigen Wohnung gelebt hatten, erwarteten sie nun beengte Wohnverhältnisse in nur einem Zimmer einer Wohnung, die sie mit ihnen bisher Fremden teilen mussten. Den Großteil ihrer Wohnungseinrichtung konnten die beiden nicht mitnehmen. Dieser wurde bei ihrem Auszug noch im Haus versteigert, wie die Hausbesitzerin nach dem Krieg bezeugte.

Nach der ersten Deportation der Juden aus der Region im Dezember 1941 nach Riga konzentrierten die Behörden dann die Kasseler Juden auch des Vorderen Westens in immer weniger „Judenhäuser“, die meist im Stadtinneren lagen. Für viele alte Menschen unter ihnen – wie das Ehepaar Fraenkel – war die letzte Station vor der Deportation in den Tod das israelitische Altersheim in der Mombachstraße 17. Das Schicksal der Deportation und Ermordung teilten fast alle jüdischen Bewohner des Vorderen Westens, die in den Jahren zuvor zwangsumgesiedelt worden waren.

Quellen und Literatur

HHStAW Abt. 518 - Entschädigungsakte Fraenkel

Barkai, Avraham / Mendes-Flohr, Paul: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV Aufbruch und Zerstörung 1918-1945, München 1997

Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014 (Verlag Jenior)

Sabine Schneider / Eckart Conze / Jens Flemming / Dietfrid Krause-Vilmar, Vergangenheiten. Die Kasseler Oberbürgermeister Seidel, Lauritzen, Branner und der Nationalsozialismus, Marburg 2015 (S. 25ff. zur Kaiserstraße 59)