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Der Vordere Westen als Regierungsviertel

Die Hauptstadtbewerbung Kassels 1948/49

Im Prozess der Entstehung der Bundesrepublik bewarb sich neben Frankfurt, Bonn und Stuttgart auch Kassel als vorläufige Bundeshauptstadt, war aber – wie man weiß – nicht erfolgreich.

Am 2. November 1948 beschloss in einer Magistratssondersitzung die überwiegende Mehrheit den Parlamentarischen Rat in Bonn zu bitten, Kassel zum Sitz der vorläufigen Bundesregierung zu erklären. Im Magistratsbeschluss heißt es: "Der Magistrat ist grundsätzlich damit einverstanden, dass Kassel mit Genehmigung des Parlamentarischen Rates zum Sitz der Bundesregierung ernannt wird. Der Parlamentarische Rat wird hiervon fernmündlich sowie durch Fernschreiben unterrichtet. (...)"  Die Initiative ging von der Fraktion der SPD unter Rudolf Freidhof aus. Nur wenige Tage später, am 8. November, war die Kasseler Denkschrift zur Hauptstadtbewerbung erstellt und wenig später stellte Oberbürgermeister Willi Seidel dem Parlamentarischen Rat, der die Entscheidung in der Hauptstadtfrage hatte, die Bewerbung Kassels vor.

In der Stadt herrschte in der Frage dieser Bewerbung großes Einvernehmen, das nur von den Kommunisten nicht geteilt wurde. Angesichts der weitgehenden Zerstörung der Innenstadt lagen die zur Unterbringung von Bundesorganen geeigneten Gebäude vornehmlich im Vorderen Westen. So heißt es über das Generalkommando, das damals größte Bürogebäude zwischen Frankfurt und Hannover, in der Denkschrift der Stadt: „Im Gebäude des ehemaligen Generalkommandos, das im Westen der Stadt Kassel und in unmittelbarer Nähe des Fernbahnhofes Kassel-Wilhelmshöhe gelegen und völlig wieder hergestellt ist, sind sämtliche Einrichtungen modernster Art für die Nachrichtenübermittlung noch aus der Kriegszeit her vorhanden, als das Generalkommando als Zentralbehörde der ehemaligen Wehrmacht mit allen Dienststellen, Behörden und Orten des Reiches in Verbindung stand. In jedem einzelnen Zimmer befindet sich Telefonanschluß und innerhalb des Hauses ist an Kabelleitungen alles Erforderliche vorhanden. Darüberhinaus befinden sich im Gebäude zwei ganz moderne Paternoster - je einer auf dem Nord- und Südflügel -, die von den Kellergeschossen bis in die Dachgeschosse hinaufführen. Auch für die Aktenbeförderung ist ein moderner gebrauchsfertiger Aufzug vorhanden und schließlich ist auch die Unterbringung wichtiger und geheimer Akten durch einen sehr großen Panzer-Tresor modernster Art und Einrichtung sichergestellt. Nach uns gemachten Mitteilungen ist die Fernsprechvermittlungs-Einrichtung bis zu 10.000 Anschlüssen ausbaufähig.

(…)

Das für die Bundesregierung usw. in Aussicht genommene Regierungsviertel liegt in unmittelbarer Nähe und rund um den Fernbahnhof Kassel-Wilhelmshöhe. Dieser selbst ist, wie die Karten und Pläne ausweisen, im Westen der Stadt gelegen. Sämtliche Gebäude der künftigen Regierung liegen vom Bahnhof Wilhelmshöhe nur wenige Geh- nicht Fahrminuten entfernt und sind somit gegebenenfalls auch ohne jedes Verkehrsmittel bequem zu erreichen. Der Kasseler Hauptbahnhof ist vom Bahnhof Wilhelmshöhe nur 7 Minuten entfernt.“

Im vertraulichen Bericht des Abgeordneten Dr. de Chapeaurouge über die Besichtigungsreise des Ausschusses des Parlamentarischen Rates vom 15. Februar 1949 heißt es über Kassel: „Die Altstadt des schönen Kassel ist ganz zerstört und ein trauriger Trümmerhaufen. Der Stadtteil Kassel-West nach Wilhelmshöhe hinaus zeigt aber nur geringe Zerstörungen und bietet für den Bundessitz gewisse Möglichkeiten, die sich in keiner anderen Stadt befinden. Die Stadthalle ist für den allgemeinen Verkehr wiederhergestellt worden und bietet einen ausgezeichneten Sitzungssaal für den Bundestag mit großen sanitären und Restaurationsmöglichkeiten. Desgleichen findet sich im selben Hause ein für die Sitzungen des Bundesrates besonders geeigneter Saal. Für die Unterbringung der Fraktionen und des unmittelbaren Geschäftsbetriebes müssen auf dem Gartengelände der Stadthalle Baulichkeiten errichtet werden, deren Ausführung in kurzen Monaten möglich scheint. Kassel ermöglicht sofort die Aufnahme eines geordneten Parlamentsbetriebes, an dem Veränderungen nicht mehr vorgenommen werden brauchen. Es hat dadurch vor den anderen Städten einen beachtlichen Vorsprung.

Der Hauptvorteil von Kassel liegt aber darin, dass nur wenige Gehminuten von der Stadthalle das grosse Generalkommando mit etwa 800 Zimmern modern eingerichtet vollkommen frei für Bürozwecke aller Art zur Verfügung steht. Bei der Wahl Kassels würden durch das Vorhandensein der Stadthalle und des Generalkommandos sicher sehr erhebliche Kosten gespart werden.“ (Quelle: BA Koblenz, Parlamentarischer Rat Z 5 Anhang/3 Bl 65-91)

Hätte die Kasseler Bewerbung Erfolg gehabt, wäre der Vordere Westen also zum Regierungsviertel geworden.

Die Hauptstadtbewerbung ist ausführlich dokumentiert in:

Wolfgang Matthäus (Hg.), Der Traum von der Hauptstadt. Wie Kassel 1948/49 verlor, Kassel 2004 (Schriften der Werkstatt Geschichte an der Albert-Schweitzer-Schule Kassel Heft 4)

Das Gesicht der Hauptstadt

Der oben abgebildete Stadtplan 1948 zeigt die zuletzt verfolgten Pläne der Stadt. Ursprünglich waren noch eine Reihe von anderen Gebäuden im Stadtteil für Zwecke einer Bundeshauptstadt vorgesehen.

Generalkommando

Das Generalkommando spielte wie die Stadthalle eine entscheidende Bedeutung bei der Bewerbung. Es wurde nach dem Krieg zunächst als Hospital der amerikanischen Besatzungsstreitkräfte genutzt, dann als Stadtkrankenhaus. Vorgesehen war es nicht nur für den Bundeskanzler, sondern auch für Ministerien. Der Präsident des Bundestages sollte nach den anfänglichen Planungen im Wohngebäude am Generalkommando wohnen.

"Villa Locomuna"

Die Villa an der Kölnischen Straße, die damals der Stadt als Gästehaus diente, war in den ursprünglichen Planungen als Sitz des Bundespräsidenten gedacht. Später schlug man dafür Schloss Wilhelmstal vor.

Heinrich-Schütz-Schule

Die Aula der Schule, in der sich zur Zeit der Bewerbung ein Kino der Amerikaner (Liberty Theatre) befand, galt ursprünglich als Option für die Unterbringung des Bundestages.

Jugendherberge

Die Jugendherberge an der Schenkendorfstraße sollte nach der Beseitigung der Kriegsschäden zur Unterbringung von Gästen dienen.

Aschrott-Boschan-Heim

Das zu dieser Zeit von den Amerikanern als Hotel Waldorf genutzte Altersheim sollte für die "persönliche Unterbringung der Mitglieder der Bundesorgane" dienen.

Stadthalle

Die Stadthalle war ein zentrales Gebäude im Bewerbungsprozess. Sie sollte der Aufnahme des Bundestages und auch des Bundesrates dienen. Sie war im Krieg nur wenig zerstört. In der Denkschrift zur Bewerbung war 1948 davon die Rede, dass sie innerhalb von sechs Monaten endgültig instand gesetzt sein könnte. In der Stadthalle sollten auch Staatsempfänge stattfinden.

Die Skizze zur Einrichtung des Bundestages in der Stadthalle ist enthalten im Tagebuch Willi Seidels (Stadtarchiv).