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Machtergreifung und Terror in Kassel

Schon in der Nacht des 30. Januar, an dessen Abend Nationalsozialisten in der Stadt Fackelzüge zur Feier der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler veranstaltet hatten, begnügten sich diese nicht damit, sondern zogen mit hasserfüllten antisemitischen Gesängen durch die Stadt und griffen mit Gewalt Läden jüdischer Inhaber an. Gegendemonstranten wurden verprügelt, die Polizei blieb passiv. Am 1. Februar erlitten Arbeitersportler auf der Königsstraße einen Überfall und am gleichen Tag wurden bereits alle Versammlungen der KPD unter freiem Himmel verboten.  

Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten entfesselte so bereits vom ersten Tag an eine Welle der rohen Gewalt in der Stadt, die sich in erster Linie gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Juden richtete. Freiheitsberaubung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Plünderung, Raub und Diebstahl waren, wie es in „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“ heißt, an der Tagesordnung. Der Nationalsozialist Göring als Preußischer Ministerpräsident sorgte dafür, dass es zu keiner Strafverfolgung mehr kam. Den liberalen Regierungspräsidenten  Ferdinand Friedensburg  beurlaubte er bereits am 12. Februar. Die Nazis eroberten und ergriffen in der Stadt die Macht.

Die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erlassene  „Reichstagsbrandverordnung“  (des Reichspräsidenten Hindenburg) gab einem Teil des Terrors eine pseudolegale Rechtfertigung und schaffte als das erste „Grundgesetz“ des NS-Staates die Grundrechte de facto ab. Verhaftungen und die sog. „Schutzhaft“ trafen vor allem Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten. Juden waren bereits am 9. März einem Boykott ausgesetzt und erlebten mehrfach Anschläge auf ihre Geschäfte. Das Gewerkschaftshaus trafen mehrere Besetzungen und Durchsuchungen. Dabei war seit dem 3. März nicht nur wie bereits zuvor die Presse der KPD, sondern auch das sozialdemokratische Kasseler Volksblatt verboten.

Nach den Reichstagswahlen vom 5. März, bei der die NSDAP in der Stadt 48,4 Prozent der Stimmen erreichte, hisste die SA auf dem Rathaus die Hakenkreuzfahne und demonstrierte ihren Kampf gegen „die roten Bonzen“. Am 24. März, einen Tag nach der Verabschiedung des  „Ermächtigungsgesetzes“  – des zweiten „Grundgesetzes“ des NS-Staates - erreichte der Terror gegen einzelne Menschen einen Höhepunkt.

An diesem Tag zwangen die Nazis unter Führung von  Roland Freisler  den amtierenden Oberbürgermeister Dr. Stadler in dessen Amtszimmer im Rathaus zum Rücktritt zugunsten des Bürgermeisters und Nationalsozialisten Gustav Lahmeyer. Vor dem Rathaus waren SA-Leute postiert, Tausende waren Zeugen, wie am helllichten Tag demokratische Beamte und Angestellte unter dem Beifall und Gejohle der Menge aus ihren Amtsstuben und die Rathaustreppe hinunter geprügelt wurden, um sie anschließend in den Bürgersälen in der Oberen Karlsstraße zu misshandeln. Das waren nur einige der Opfer. Vom Terror des 24. März waren aus dem Vorderen Westen mindestens drei Menschen besonders betroffen: Henriette Plaut, der Sozialdemokrat Christian Wittrock und der Maschinenmeister Johannes Kampka.

Henriette Plaut verliert ihren Sohn Max durch Mord

Die verwitwete  Henriette Plaut  lebte seit 1926 in der Kaiserstraße 13 (heute Goethestraße). Ihr Sohn, der Rechtsanwalt und Notar Dr. Maximilian Plaut, war schon lange vor 1933 als Jude und Prozessgegner von Nationalsozialisten öffentlichen Drohungen ausgesetzt. Die „Abrechnung“ mit ihm erfolgte am 24. März. SA-Leute verschleppten ihn von seinem Büro in der Wolfsschlucht in die Keller ihres Sturmlokals „Bürgersäle“ und verprügelten und misshandelten ihn dort stundenlang vor allem mit Stockschlägen auf das Gesäß. Rechtsanwalt Dellevie teilte am Tag darauf dem Polizeipräsidenten mit, Plaut befinde sich in Lebensgefahr, nachdem er in seine Wohnung gebracht worden sei. Max Plaut war einer von einer ganzen Reihe Kasseler Nazigegner, die an diesem und dem folgenden Tag Ähnliches erleiden mussten. Neben ihm traf es unter der jüdischen Bevölkerung die Kaufleute Ball, Feuerstein und Strauss, den Bankier Plaut und  Rechtsanwalt Dalberg,  von denen mehrere wie Max Plaut schwer verletzt wurden. Die enthemmte Gewalt traf vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, weil sie in den Augen der Naziaktivisten einer vollständigen Machtergreifung im Weg standen. Der Polizeipräsident, dessen sozialdemokratischer Vorgänger bereits 1932 entlassen worden war, sah tatenlos zu, akzeptierte bereits zu diesem Zeitpunkt die Vorherrschaft der Partei vor dem Recht. Im Einvernehmen mit dem Kommandeur der Schutzpolizei und dem Regierungspräsidenten war er der Auffassung, dass polizeiliches Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung gegen die SA wahrscheinlich Waffengebrauch erforderlich machen würde. „Derartige bewaffnete Auseinandersetzungen mit der S.A. seien aber bei der gegenwärtigen Situation völlig indiskutabel, da die daraus möglicherweise entstehenden Folgen unübersehbar seien.“

Max Plaut  starb am 31. März. Die Nachricht von seinem Tod ging wie ein Lauffeuer durch die jüdische Gemeinde und war für manche das Signal, besser Deutschland zu verlassen. Bei der Staatsanwaltschaft ging eine „Anzeige gegen Unbekannt“ ein, die zu einer Obduktion seiner Leiche im Landeskrankenhaus auf dem Möncheberg führte, die als Todesursache Herzversagen ergab. Zwar wurden Verletzungen am Kopf und vor allem am Gesäß gefunden, aber die Gutachter kamen zu dem Schluss: „Aus den Ergebnissen der Leichenöffnung lässt sich nicht sagen, ob die Verletzungen am Gesäß das bestehende Herzleiden ungünstig beeinflusst haben.“ Die Akte Max Plaut wurde geschlossen.

Max Plauts Witwe Elsa durfte erst im Juli 1933 zusammen mit den Kindern in ihre Heimat in der Schweiz zurückkehren, wozu es diplomatischer Bemühungen der Schweiz bedurfte. Max‘ Geschwister Käthchen und Ernst wanderten in den nächsten Jahren nach Palästina aus. Die Mutter Henriette blieb kinderlos zurück. In den folgenden Jahren stellte sie mehrfach ihre Wohnung in der Kaiserstraße 13 als „Pension“ für Familien zur Verfügung, die kurz vor der Auswanderung standen und keine eigene Bleibe mehr hatten. Später folgten Zwangseinweisungen, mit denen in dem Haus jüdische Bewohnerinnen und Bewohner konzentriert wurden. Sie selbst vertrieb man im Januar 1942 aus ihrer Wohnung, wies sie in das israelitische Altersheim in der Mombachstraße 17 ein und verschleppte sie am 7. September 1942 im Alter von 81 Jahren von Kassel nach Theresienstadt, wo sie bereits wenige Tage später, am 19. September, starb.

Christian Wittrock

Als prominenter Kasseler Sozialdemokrat und Nazigegner gehörte Christian Wittrock, der in der Luisenstraße 20 lebte, zu den politischen Gegnern, die den Terror des 24. März erlitten. 1882 geboren und 1900 in die SPD eingetreten, hatte er seit 1919 mehrere Ämter in der Partei und auch öffentliche Ämter bekleidet - unter anderem als Mitglied des Preußischen Staatsrates und als Fraktionsvorsitzender der SPD in der Stadtverordnetenversammlung. Hier war er eine besondere Zielscheibe der Nazis unter Führung Roland Freislers, den er während einer heftigen Auseinandersetzung im Parlament 1932 ohrfeigte. Auch er war prädestiniert, am 24. März Opfer der SA-Gewalt zu werden. In einem Schreiben eines Abgeordneten des Preußischen Landtags an Reichsminister Göring heißt es:

 „[Der] Geschäftsführer der Besonderen Ortskrankenkasse Kassel Christian Wittrock, Kassel Luisenstraße 20, in den 40er Jahren, wurde am 24.3.1933 von zwei SA-Leuten aus seinem Büro geholt, das in Kassel in der oberen Karlsstraße gelegen ist, über den in der Nähe befindlichen Rathaushof in das Rathaus geführt und von da über die Rathausfreitreppe gebracht, dann durch die Menschenmenge hindurch nach den Bürgersälen in der Oberen Karlsstraße. Dabei schon getreten und geschlagen. In den Bürgersälen wurden zuerst sein Personalien von SA. aufgenommen und dann gesagt: ‚Wittrock ist entlassen.‘ Er wurde dann, anscheinend als wenn er entlassen werden sollte, aus dem Saal geführt, aber nicht aus dem Hause hinaus, sondern überraschend in einen dunklen Keller gebracht, dort auf eine Pritsche gelegt und mit Gummiknüppeln misshandelt. Zwei Schläge auf den Kopf, Blutergüsse in Rücken, Gesäß und Oberschenkeln. Kleidung beschmutzt, teilweise zerrissen, ebenfalls Schuhe. Dann nochmals in den Saal gebracht und dort ein zweites Mal misshandelt. In ärztlicher Behandlung bei Dr. Fackenheim in Kassel.“ (HStAM 165 3982, Bd. 10 Bl. 66)

Das Mandat, das Wittrock am 12. März bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung erhalten hatte, wurde ihm aberkannt. Aus seiner beruflichen Stellung entließ man ihn. Unter ständiger Beobachtung und Überwachung und insgesamt mehr als 60 Tage in Haft musste er mehrfach umziehen. In den Jahren vor dem Krieg lebte er in dem Haus seiner verwitweten Mutter in der Schäfergasse und betrieb dort die alteingesessene Gastwirtschaft der Familie. Mit Kriegsbeginn erneut verhaftet, erlitt er bis zur Befreiung mehr als fünf Jahre lang die Qualen eines Häftlings im KZ-Sachsenhausen.

Nach dem Krieg konnte er als Verwaltungsdirektor der AOK in Kassel wieder in seine berufliche Stellung zurückkehren und bekleidete eine Reihe von öffentlichen Ämtern, unter anderem als Stadtverordneter und Stadtverordnetenvorsteher, ehrenamtlicher Stadtrat sowie als Abgeordneter des Landtags und zeitweise dessen Vizepräsident. Christian Wittrock starb 1967.

Johannes Kampka

Von Johannes Kampka stammt ein Augenzeugenbericht, der in dem gleichen Dokument enthalten ist, in dem Wittrocks Misshandlung geschildert wird. Seine Biografie konnten wir bislang nicht aufklären. Kampka wohnte in der Querallee 43, war laut Adressbuch Maschinenmeister und arbeitete – seinem Bericht zufolge – für die Stadtverwaltung im Rathaus. Über das, was ihm widerfuhr, schreibt er am 29. März 1933:


„Am 24.3.33 wurde ich etwa gegen 12 Uhr auf dem Gang vor der Druckerei Zimmer 48 im Rathaus von 2 Naz. SA-Uniform angesprochen: ‚Sie sind doch Herr Kampka?‘ Ich antwortete ihnen zustimmend, worauf mir gesagt wurde: ‚Gehen Sie bitte mit in die Bürgersäle‘. Ich wurde von ihnen die Rathaus-Freitreppe heruntergeführt zu den Bürgersälen hin. Dort habe ich im großen Saal etwa 2 Stunden mit anderen Beamten und Angestellten des Rathauses warten müssen. Wir wurden einzeln herausgeführt und in einem Nebenzimmer von einem Zivilisten und einem in SA-Uniform vernommen. ‚Sind sie Mitglied der SPD?‘ war die erste Frage, verneinte dieselbe und fügte hinzu, daß ich 1928 oder 1929 bereits ausgetreten sei. ‚Sie sind aber Mitglied des Betriebsrates?‘ ‚Jawohl, aber Beisitzender.‘ Haben Sie in dieser Eigenschaft als Angehöriger des Betriebsrates irgend jemanden etwas zuleide getan‘. ‚Nein, das kann ich nicht, da ich nur Beisitzender bin‘, war meine Antwort. Man fragte mich dann weiter, ob ich Mitglied der KPD sei. Ich sagte Ihnen, dass das nicht der Fall sei. ‚Sie sind Kriegsteilnehmer?‘ ‚Ja.‘ ‚Was habt ihr mit uns getan 1918‘?, Ihr habt uns die Achselstücke heruntergerissen und ins Gesicht gespuckt!‘ ‚Da habe ich nichts mit zu tun‘ antwortete ich ihnen. ‚Nun gut, gehen Sie mit den beiden Herren dort.‘ Daraufhin wurde ich von 2 SA-Leuten aus dem Zimmer herausgeführt, zum Keller hinunter, der von SA-Leuten besetzt war. Der Keller war dunkel. Mit zwei Taschenlampen beleuchtete man ihn. Ich erkannte eine Pritsche, auf die hinzulegen man mich zwang, mit den Worten, nun leg Dich mal ein bisschen hin. Man hielt mich am Kopf, Händen und Füßen fest, mehrere SA-Leute schlugen auf mich mit Gummiknüppeln eine Viertelstunde ein, Rücken, Gesäß und Oberschenkel. Am Kopf, Arm blutete ich, durch das ständige Aufschlagen auf der Pritsche. Aufhören, kommandierte plötzlich jemand. Darauf wurde ich wieder heraufgeführt nach oben. Man reichte mir ein Glas Wasser und sagte: ‚Na, Du hast noch nicht viel abbekommen, ruf mal ‚Heil Hitler‘. Da ich zu sehr blutete, wurde ich noch einmal in den ersten Stock geschickt und vom Blut gereinigt. Bis zum Rathaus wurde ich begleitet, ich holte meine Sachen vom Büro und ging nach Hause. Vor der Landesversicherungsanstalt brach ich zusammen. Stadtsekretär Theune sah mich und fasste mich unter und begleitete mich nach Hause. Seit dieser Zeit liege ich zu Bett und bin dienstunfähig. Gesehen wurde ich von den Ärzten Dr. Nagel, Dr. Müssig, Dr. Müller, Prinzenstraße, Dr. Hans Wegener, Wilh. Allee.“


Kassel, den 29.3.33     
Querallee 43
Johann Kampka