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Dr.-Lilli-Jahn-Platz

Auf Grund eines Beschlusses des Ortsbeirates erhielt der neu geschaffene Platz vor der Adventskirche im Jahr 2014 die Benennung Dr.-Lilli-Jahn-Platz. Die offizielle Einweihung fand mit OB Bertram Hilgen statt. Am Abend las Lilli Jahns Enkel Martin Doerry zusammen mit der Schauspielerin Andrea Wolf aus den Briefen Lilli Jahns, die er vor einigen Jahren publiziert hatte.

Die Namensgebung des Platzes soll an eine außergewöhnliche Frau und ein tragisches Schicksal erinnern. 1900 geboren, gehörte sie zu den ersten Generationen von Abiturientinnen und Studentinnen in Deutschland, ergriff den Beruf der Ärztin, gründete eine Familie mit ihrem nicht-jüdischen Ehemann, ehe eine verbrecherisches, rassistisches Regime und eine feindselig gewordene Umgebung sie aus dem Beruf und ihr Leben aus der Bahn warfen. Tapfer stemmte sie sich dagegen, immer in der Sorge um ihrer Kinder.

Die Namensgebung soll aber auch an ein einst blühendes jüdisches Leben in der Stadt und im Stadtteil erinnern.

Dr. med Lilli Jahn

Am 5. März 1900 wird Lilli Jahn als Tochter des Kaufmanns Josef Schlüchterer und seiner Frau Paula in Köln geboren. Ein Jahr darauf, im Juni 1901, kommt ihre Schwester Elsa zur Welt. Zuerst besucht Lilli ein Privat-Lyzeum, um anschließend auf einem Real- Gymnasium Ostern 1919 mit bestandenem Abitur ihre Schullaufbahn zu beenden. Sie beginnt ab Herbst des gleichen Jahres ein Medizinstudium, das sie bis zu ihrem Examen und darauf folgender Promotion 1924 in Köln in verschiedene Städte Deutschlands führt. Es folgen zwei Jahre als behandelnde Ärztin vertretungsweise in verschiedenen Praxen sowie im israelitischen  Asyl für Kranke und Altersschwache in Köln-Ehrenfeld.

Am 12. August 1926 heiratet Lilli Ernst Jahn, ebenfalls Arzt, aber anders als sie nicht jüdischer Herkunft. Ernst Jahn hat eine Praxis in Immenhausen bei Kassel erhalten. Nach der Geburt ihres ersten Sohnes Gerhard im September 1927 zieht die Familie knapp ein Jahr darauf dort in ein eigenes Haus. Dort werden die Töchter Ilse im Januar 1929 und Johanna im Juli 1930 geboren. 1933 muss Lilli ihre ärztliche Tätigkeit aufgeben und widmet sich von nun an verstärkt ihrem Familienleben. Im April bringt sie ihre Tochter Eva auf die Welt.

Kurze Zeit darauf emigriert Lillis Schwester Elsa nach England. Auch ihre Mutter verlässt im Mai 1939 das Deutsche Reich, um bei Elsa im Ausland zu leben. Lilli Jahn ist nun die einzige der Familie, die noch in Deutschland lebt. In Immenhausen ist sie als Jüdin schon lange gemieden und isoliert. Als Ärztin kann sie nicht mehr praktizieren, der Doktortitel wird ihr aberkannt.

Am 25. September 1940 wird ihr letztes Mädchen geboren, es erhält den Namen Dorothea. Nur rund zwei Jahre später, am 2. Oktober 1942, wird die Ehe mit Ernst Jahn geschieden, im Sommer 1943 wird dieser als Arzt zur Wehrmacht eingezogen. Lilli ist genötigt,  mit ihren Kindern in eine Wohnung in Kassel in der Motzstraße, in unmittelbarer Nähe zum Vorderen Westen, zu ziehen. Aufgrund einer  - aus heutiger Sicht -Lappalie wird sie Ende August 1943 durch die Gestapo verhaftet, anschließend im Polizeipräsidium Kassel und seit dem 3. September 1943 im Arbeitserziehungslagerlager Breitenau inhaftiert. Vordergründiger Stein des Anstoßes ist ihr Klingelschild, auf dem sie den Doktortitel führt und den Zwangsvornamen Sara nicht angibt.

Als am 22. Oktober die Kassler Wohnung bei einem Bombenangriff zerstört wird, kehren Lillis Kinder nach Immenhausen zurück. Lilli selbst wird am 17. März 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie am 17. oder 19. Juni, kaum ein viertel Jahr darauf,  nach Jahren der Diskriminierung, Entrechtung und Verfolgung stirbt.

Ihren letzten von zahlreichen Briefen – auch aus der Haft – an ihre Kinder hatte sie auf dem Weg nach Auschwitz geschrieben:

„Meine innigstgeliebten Kinder alle.

Das ist eine lange und langweilige Reise; am 7. Tag sind wir über Halle bis Leipzig!! Wie gerne hätte ich Tante Lotte noch mal gesehen! Illekind, Leipzig sieht böse, böse aus, am Bahnhof, Augustus-Platz und in der ganzen Innenstadt nur Trümmerhaufen. Am 2. Tag sind wir bis Dresden gekommen. Dort waren wir 3 Tage, und von dort schrieb ich schon eine Karte, die hoffentlich bald in Eure Hände kommt, und hoffentlich erhaltet Ihr auch diese Zeilen, das wäre mir eine solche Freude.

Wir sitzen nun schon seit 3 Uhr hier in Dresden am Bahnhof und hören eben, daß der Zug erst um 10 Uhr heute abend weitergeht. Morgen abend werden wir dann in Auschwitz sein. Die Mitteilungen darüber, wie es dort sein soll, sind sehr widersprechend. Es kann sein, daß ich erst nach vier oder sogar nach acht Wochen schreiben darf, seid also bitte nicht in Sorge, wenn ihr jetzt länger nichts hören solltet. Und wenn es gar so lange dauert, dann versucht doch, mir zuerst zu schreiben, vielleicht bekomme ich's doch. Wir müssen nun abwarten, wie alles wird. Ich werde weiter tapfer sein und fest die Zähne zusammenbeißen und an Euch denken und durchhalten, wenn's auch noch so schwer sein wird.

Solltet Ihr mir Pakete schicken dürfen, so denkt bitte immer mal wieder an Zahnpasta, Haarnadeln und Kör­per-Puder. Und seid bitte nicht so traurig, Ihr meine Kinder. Es ist mir eine solche Beruhigung zu wissen, daß Ihr Eure Ordnung und Eure Pflege habt und Euren Vati, der sich um Euch sorgt und Euch sehr lieb hat. Vergeßt das nicht, wenn ihr auch heute sein Verhalten nicht verstehen könnt. Der Vati wird Euch auch immer wieder die Wege weisen zu allem Schönen und Guten und Hohen - denn der Mensch lebt ja nicht nur vom Brot allein. -

Ich bedaure es auch sehr, daß Tante Lore sich doch nicht so um Euch kümmert, wie ich es gerne erwartet hätte. Tante Rita klagte mir auch, daß sie es so schwer habe mit Euch. Um Eures Vati willen seid lieb und folgsam, es geht dann alles leichter.

In den letzten Tagen habe ich die Familien beneidet, die alle zusammen damals fortgebracht wurden. Aber wenn ich's recht bedenke, ist es mir trotz aller tiefen Sehnsucht und allem Trennungs-Schmerz leichter, Euch in geregelten Verhältnissen zu wissen und Euch verschont zu sehen von all dem Widerwärtigen und Häßlichen. Ich habe nur den einzigen heißen Wunsch, Euch alle gesund wiederzusehen. Nochmals liebe Grüße, und bestellt ihm folgendes: Er selbst und niemand anders soll nochmals alles versuchen, und wenn er sich bis an die höchsten Stellen nach Berlin wendet.

Jetzt auf dem Transport hab ich einen früheren Staats­anwalt und Rechtsanwalt aus Freiburg kennengelernt, der Onkel Max gut kannte und auch Onkel Ernst August und Tante Lotte. Auch Mischehe, Sohn in englischer Kriegs­gefangenschaft. Von diesem Herrn hörte ich, daß alle einzelnen jüdischen Personen aus Mischehen, also wenn der andere Teil tot oder geschieden ist, fortkommen, aber nur dann, wenn die Kinder über 18 Jahre sind. Er war sehr überrascht, als ich von Euch erzählte, und kann es gar nicht verstehen. So etwas sei noch nicht dagewesen bisher und solle eigentlich auch nicht vorkommen. Vati soll die Richtigkeit dieser Nachrichten nochmal prüfen und sie dann zur Grundlage seines Gesuchs machen. Er soll verlangen, daß ich freikomme, zumal er doch auch Wehrmachtsangehöriger ist.

Hoffentlich, hoffentlich erhaltet ihr diesen Brief! Habt Ihr das Päckchen mit den Briefen, dem Löffel für mein Dorle und den Kleinigkeiten erhalten? Und das Bücherpaket? Sonst fordert es an von Breitenau (die Bücher! Die Briefe hatte ich heimlich abgeschickt!).

Und nun lebt alle miteinander nochmals wohl – Gerhard-­Junge, Ilsemaus, Hannelekind, Evalein und mein Dorle­Schatz! Gott behüte Euch! Wir bleiben unlöslich mitein­ander verbunden. Seid herzinniglich gegrüßt und geküßt von Eurer treuen

Mutti”

(zit. nach Doerry)

Literatur

Martin Doerry, "Mein verwundetes Herz": Das Leben der Lilli Jahn. 1900 – 1944, München 2002

Wikipedia zu Lilli Jahn