Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg
Am 10. November 1938 wurde der Lehrer der jüdischen Schule in Kassel Willy Katz während des Pogroms zusammen mit zahlreichen jüdischen Männern aus Kassel verhaftet und vorübergehend in der Kaserne auf dem Gelände der heutigen Samuel-Beckett-Anlage inhaftiert, um sie in das KZ Buchenwald zu deportieren. Katz hatte im Ersten Weltkrieg gedient und sich genau an diesem Ort als Kriegsfreiwilliger gemeldet. In seinen Erinnerungen heißt es:
„Hier in diesem Saal hatte ich mich in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet. Draußen auf dem Kasernenhof hatte ich den ersten Soldatenschliff mitgemacht und später die Ausbildung am Maschinengewehr. In diesem Saal hatte ich mich freiwillig an die Front gemeldet. Wie lange lag das zurück? Nicht mehr als 24 Jahre! Und nun war ich der Gefangene desselben Volkes, für das ich mein Leben gegeben hätte." (Katz, William (Willy): Ein jüdisch-deutsches Leben: 1904-1939-1978, Tübingen 1980, S.134f.)“
Viele jüdische Männer hatten 1914 den Patriotismus von Willy Katz geteilt. In allen jüdischen Familien der Vorderen Westens gab es Kriegsteilnehmer, von denen einige dem Krieg zum Opfer fielen. Schülerinnen der damaligen Malwida von Meysenbug-Schule (heute Heinrich-Schütz-Schule) berichten in ihren Lebenserinnerungen immer wieder von diesem Teil ihrer Familiengeschichte. Dort heißt es zum Beispiel:
- „Mein Vater war naturalisierter Deutscher [die Familie war vor den Pogromen aus Russland geflohen] und stolzer darauf als mancher, der es von Geburt war. Er hatte vier Jahre in Frankreich und Belgien im 1. Weltkrieg in den Schützengräben gelegen. Unsere Namen waren auch, außer dem meiner Schwester Eva, sehr deutsch: Wilhelm, Günter, Friedrich und ich, Gretchen.“ (Gretchen Witepski).
- „Mein Vater war Kinderarzt in Hamburg und ist im Ersten Weltkrieg gefallen für das ‚deutsche Vaterland‘.“ (Eva Bella Halberstadt).
- „Dazu muss man sagen, dass mein Vater ein deutscher Patriot war, der sich im ersten
- Weltkrieg als Stabsarzt immer an die Front gemeldet hatte, was die meisten Stabsärzte offenbar nicht taten.“ (Marianne Strauß).
- Der Max Grünbaum, der Vater von Erika Grünbaum und einer der ganz wenigen jüdischen Beamten in der Stadt, „hatte in Kassel bei den Husaren gedient“ und war „dann zum Train eingezogen und nach Ausbruch des 1. Weltkrieges zuerst nach Polen, Serbien und später nach Frankreich geschickt. In Frankreich wurde er verwundet und kam ins Lazarett.“ (Margarete Grünbaum).
- „Bei uns in der Familie gab es keine Heldenverehrung und kein Sich-Sonnen in Kriegserlebnissen, obwohl drei meiner Onkel im Krieg waren. Nur Trauer um meinen gefallenen zweitjüngsten Onkel (…) und den Bruder einer Verwandten, der ebenfalls gefallen war und dessen Namen nicht genannt werden konnte, ohne dass meine Tante weinte. „ (Lisel Goldschmidt).
Ein besonders prominenter Soldat des Ersten Weltkrieges aus dem Vorderen Westen war Kurt Katzenstein (Kurt Kaye), der als Abiturient freiwillig in den Krieg gezogen war. Zunächst bei der Artillerie eingesetzt, kam er nach einer Verwundung zur Fliegerei und wurde als Aufklärungsflieger in Russland, später als Jagdflieger eingesetzt. Am Kriegsende kehrte er mit seinem Flugzeug nach Kassel zurück und veranstaltete Flüge über Nordhessen, bis der Soldatenrat das Flugzeug beschlagnahmte. Nach dem Studium zum Diplom-Ingenieur arbeitete er als Werkspilot in Waldau, wo er sich weiter zum Kunstflieger ausbilden ließ. Weltweit erregte er 1924 Aufsehen, als er mit seinem Doppeldecker unter der Fuldabrücke durchflog. Katzenstein war 1925 Mitgründer der Raab-Katzenstein-Flugzeugwerke in Waldau. Bereits 1933 sah er sich gezwungen, Deutschland zu verlassen, und emigrierte nach Südafrika.
Dr. Paul Hofmann
Der 1886 in Meiningen als Kind jüdischer Eltern geborene Paul Hofmann hatte sich kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges und seiner Heirat mit einer nicht-jüdischen Ehefrau taufen lassen. Während der Dauer des gesamten Krieges war er als Arzt beim Heer eingesetzt. Als Soldat erlitt er bereits 1914 schwere Verwundungen, 1918 erkrankte er an Ruhr. Sorgfältig hat er die Dokumente aufbewahrt, die von seinen Auszeichnungen im Krieg zeugen: der Verleihung des schwarzen Verwundeten-Abzeichen und des Eisernen Kreuzes, zunächst der II. und dann auch I. Klasse.
Nach Kriegsende kam Dr. Paul Hofmann als Arzt nach Kassel und wohnte die meiste Zeit in der Kölnischen Straße 181 im Vorderen Westen. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit war er in hervorgehobenen Positionen als Funktionär in Standesorganisationen der Ärzteschaft tätig. Aus diesen Ämtern entlassen und in der ärztlichen Tätigkeit eingeschränkt, verlor er als Jude auch seine Approbation und musste seit 1941 bis zum Kriegsende Zwangsarbeit in verschiedenen Kasseler Betrieben leisten. 1945 war er der entscheidende Initiator der Gründung einer neuen Ärztekammer, zunächst für Kassel und dann auch für Hessen, deren erster Präsident er wurde. Als er 1961 starb, war es seiner Familie offenbar wichtig, in der Todesanzeige auf seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg und seine militärische Auszeichnung zu erinnern.
Das "Ehrenkreuz für Frontkämpfer“
Das 1934 vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg gestiftete „Ehrenkreuz für Frontkämpfer“ wurde nach dessen Tod vom Führer und Reichskanzler Adolf Hitler verliehen. Diese Auszeichnung musste beantragt werden, was offensichtlich auch Regimegegner und Juden mit Erfolg taten, weil sie sich dadurch vielleicht besser geschützt sahen. So ist es zu erklären, dass der deutsche Generalkonsul in Jerusalem dem bereits nach Tel Aviv emigrierten jüdischen Kasseler Arzt Dr. Sally Strauß (s. o.) ein Besitzzeugnis über das Ehrenkreuz ausstellte.
Antisemitismus und Dolchstoßlegende
Etwa 100.000 deutsche Juden kämpften im Ersten Weltkrieg in der Armee, darunter ca. 72.000 direkt an der Front, von denen 12.000 ihren Dienst mit dem Leben bezahlten, darunter 62 aus Kassel. Anders als zuvor war in diesem Krieg jüdischen Soldaten auch ein Aufstieg in die Offiziersränge möglich. Aus Stolz nahmen das aber manche angesichts der früheren Diskriminierung nicht an.
Trotz ihrer militärischen Leistungen „sahen sich die ehemaligen Soldaten [und das Judentum in Deutschland] nach Kriegsende unzähligen antisemitischen Diffamierungen ausgesetzt, die von dem Vorwurf der Wehrdienstverweigerung bis hin zu dem der Wehrkraftzersetzung reichten und im Rahmen der „Dolchstoßlegende“ die Schuld an dem verlorenen Weltkrieg unverhohlen bei ‚den Juden‘ suchten.“ (LeMO)
Die Kasseler jüdische Gemeinde ehrte ihre Gefallenen mit einer Gedenktafel in der großen Synagoge, die von dem Architekten Karl Hermann Sichel entworfen wurde, der auch das Denkmal für die Gefallenen auf dem alten jüdischen Friedhof in Bettenhausen schuf. Beide Denkmäler waren zugleich sichtbare Zeichen gegen die antisemitische Verleumdungs- und Hasspropaganda der Nachkriegszeit.
Dem Ziel der Abwehr des Antisemitismus diente auch die Gründung des „Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten“ (RjF) 1919 durch ehemalige Soldaten, der bis auf etwa 55.000 Mitglieder anwuchs und damit zur mitgliederstärksten Organisation der deutschen Juden wurde. Als eine von etwa 500 Ortsgruppen wurde die Kasseler am 9. September 1921 in den Räumen der Sinai-Loge gegründet. Dazu hieß es in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 16. September:
Die Ortsgruppe bezweckt, „ebenso wie die übrigen Zweigstellen des Reichsbundes jüdischer
Frontsoldaten Deutschlands den Zusammenschluss der jüdischen Frontsoldaten Deutschlands zur Wahrung ihrer gemeinsamen Interessen, insbesondere die Wahrung der Ehre der ehemaligen jüdischen Krieger im deutschen Heer.“ Etwa 100 Personen traten unmittelbar nach der Gründung der Ortsgruppe bei.
NS Diktatur
Als Willy Katz im November 1938 kurz vor seiner Verhaftung stand, traf er für diesen Fall noch Vorbereitungen und öffnete eine Kassette, der er unter anderem Geld entnahm, die aber auch wichtige Papiere enthielt. Unter ihnen waren die Verleihungsurkunden des Eisernen Kreuzes und des Verdienstkreuzes für Frontkämpfer. In seinen Erinnerungen heißt es: „Ich nahm die Urkunde für das vom ‚Führer‘ verliehene Ehrenkreuz heraus, legte sie in einen Briefumschlag und steckte sie später, als ich im Schlafzimmer war, mit dem Geldbeutel in die Taschen des im Schrank zurechtgehängten Rockes.“ (Katz, S. 132)
Hoffnungen von Juden, als Frontkämpfer vielleicht „davon zu kommen“, trogen. Zwar nahm sie der NS-Staat in frühen ‚Gesetzen‘ und Verordnungen zur Entrechtung mitunter noch aus. Von der Haft in Buchenwald 1938 unter mörderischen Bedingungen blieb aber Willy Katz ebenso wenig verschont wie der Vater einer Schülerin der Malwida von Meysenbug-Schule Carl Cramer, der sagte, als er aus Buchenwald zurückkam, (…) dass 14 Tage Konzentrationslager viel schlimmer seien als vier Jahre an der Front“ (Hildegard Cramer) - auch er Kriegsteilnehmer und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Wer nicht – wie Willy Katz – ins rettende Ausland gelangen konnte, fiel dem Völkermord zum Opfer.
Quellen und Literatur
- Katz, William (Willy): Ein jüdisch-deutsches Leben: 1904-1939-1978, Tübingen 1980
- Heither, Dietrich / Matthäus, Wolfgang / Pieper, Bernd: Als jüdische Schülerin entlassen, 2. Aufl. Kassel 1987
- Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014
- „Gründung einer Ortsgruppe des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten in Kassel, 9. September 1921“, in: Zeitgeschichte in Hessen (Stand: 24.6.2020)
- Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe (lagis-hessen.de)
- Dokumente zu Paul Hofmann, zur Verfügung gestellt von Ken Hofmann