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Lisel Kahn erinnert sich über Kindheit und Jugend

Lisel Kahn, geb. Goldschmidt, Tochter des Rechtsanwalts David Goldschmidt, wuchs am Kirchweg 80 auf. Sie emigrierte nach dem Abitur an der heutigen Heinrich-Schütz-Schule 1934 nach Schweden. In ihren Lebensererinnerungen, die sie für ihre Töchter schrieb, erinnert sie sich an Kindheit und Jugend im Vorderen Westen.

"Meine ersten Erinnerungen an Judenhass hängen mit dem Kirchweg und seinen Nebenstraßen zusammen. An der zweiten Nebenstraße links erwartete mich eine Schar von Kindern, die, wenn sie mich sahen, im Singsang losschrien: Blonde Jüdin vom Kirchweg - Blon-de Jüüü-din vom Kirch-weg. Sie schrien nur, ließen mich aber sonst im Allgemeinen in Ruhe. Nur einmal im Winter bewarfen sie mich mit Schneebällen, in denen Steine waren. Es bekam ihnen schlecht, da ein Erwachsener Zeuge war und es anmeldete. Blaue Flecken blieben mir also erspart - außer in der Seele.

Der Hass und die Freude darüber, dass sie mich mit dem Geschrei imm­er in die Flucht jagten, war echt. Es war ein doppelter Hass. Ich war nicht nur Jüdin, ich hatte auch noch die Frechheit, nicht so auszusehen. Meine Nase hatte noch nicht begonnen sich zu biegen, und kein Kind in der ganzen Gegend hatte so hellblonde Haare wie ich.
Übrigens hasste ich dieses helle Haar; und in meiner Kindheit bedeutete es große Belastung. Beide Eltern waren dunkelhaarig und die übrige Familie auch, alle meine jüdischen Freundinnen sahen so aus, wie es sich gehörte, hatten schwarze oder braune Haare und meistens auch dunkle Augen (die „deutschen“ Kinder übrigens auch oft...). Ich empfand mich also selbst als irgendwie ,,regelwidrig“. ... Besonders bei der - vielleicht nicht immer gutgemeinten - Frage: ,,Wo hat denn das Kind nur die schönen blonden Haare her?“ -  Als dann später in der Rassenkunde über germanische Merkmale gesprochen wurde, wurde der Umstand, dass ich die hellsten Haare in der ganzen Schule hatte, durchaus unangenehm.
Ich sehe mich mit einem Stückchen Kreide in der Hand herumgehen und Hakenkreuze an den Hauswänden der Kattenstraße in Quadrate, mit vier Vierecken darin, verwandeln. Es muss dies schon vor l925 gewesen sein, denn ich ging noch ins Kästnersche Lyzeum, und die Hakenkreuze stammten von einem Kind aus meiner Klasse, das sie trotz meiner Bemühungen immer wieder schön erneuerte.
Über dem Deutschland meiner Jugend wehte - offiziell - die Fahne schwarz-rot-gold. Die Fahne des Versailler Friedens, der Weimar-Republik, der Demokratie. Aber für die kaisertreuen, patriotischen, deutsch-nationalen Deutschen waren die Farben schwarz-weiß-rot durchaus nicht vergessen. Sie waren in ihren Herzen bewahrt worden - wie auch der nicht gewonnene Sieg. Beides sollte wieder auferstehen, in der Hakenkreuzfahne bzw. in dem Schrei der Nationalsozialisten ,,Sieg Heil“.
Schwarz-weiß-rot war treu-deutsch, war Vaterlandsliebe, Mut, Ehre, war Frontkämpfer, ,,als wir vor Verdun standen“, Kriegskameraden, Helden, Siege. War Deutschland, Deutschland über alles. Ich empfand Unbehagen diesen Farben gegenüber; sie symbolisierten etwas, was uns fremd war und wo wir nicht hingehörten. Schwarz-weiß-rote Bändchen saßen hinter den Fotografien von Kriegshelden, mit Eichenlaub daneben, mit schwarzem Trauerflor, wenn der Betreffende gefallen war, schwarz-weiß-rot schmück­te Bilder in Riesenformat von Bismarck, Hindenburg, Ludendorff. Zum Eisernen Kreuz gehörten diese Farben und zu vaterländischen Kriegserinnerungen.
Der Gram über den verlorenen Krieg, der Feindeshass, die Selbstbemitleidung, all dies war selbst in meinen unschuldigen Kinderbüchern enthalten (,,Nesthäkchen und der erste Weltkrieg“ z. B.), in denen der Patriotismus als selbstverständliche Ingredienz mit hineingebacken war. Ich las diese Bücher mit großer Begeisterung und merkte nichts von alledem, es geht mir eigentlich erst jetzt beim Schreiben richtig auf. Da gab es einen Kanarienvogel, den ,,Nesthäkchen“ - nach dem Sieg bei Tannenberg - liebevoll ,,Hindenburg“ taufte, da gab es eine verhasste ,,Polin“ in ihrer Klasse, die sich glücklicherweise als rein deutsch und Tochter eines gefallenen Offiziers entpuppte, so dass die Kinder sich schämten, sie vorher schlecht behandelt zu haben, und so weiter.
Bei uns in der Familie gab es keine Heldenverehrung und kein Sich-Sonnen in Kriegserlebnissen, obwohl drei meiner Onkel im Krieg waren. Nur Trauer um meinen gefallenen zweitjüngsten Onkel, an den ich mich nicht erinnere, und um den Bruder einer Verwandten, der ebenfalls gefall­en war, und dessen Namen nicht genannt werden konnte, ohne dass meine Tante weinte. Über den Krieg wurde selten gesprochen.
Ich sehe diese meine Tante auf unserem Balkon stehen. Unten marschierten deutsche Männer vorbei (ich erinnere mich nun nicht mehr, ob es Mitglieder des Stahlhelm oder schon SA-Leute waren), singend im Marschtakt. Aus dem Verein ehemaliger Frontsoldaten waren die Juden da schon längst herausgeworfen worden. Meine Tante weinte und wollte nicht aufhören und schließlich sagte sie leise: ,,Und dafür musste mein Bruder David sterben!“ - Die deutsche Rechte - die Deutsch-Nationalen, Adel, Offiziere, Gutsbesitzer, Junker, die Mitglieder des ,,Stahlhelm“ - waren schwarz-weiß-rot bis ins Mark hinein. Rassenhass und Judenfeindlichkeit gehörten von alters her mit dazu." (Archiv Wolfgang Matthäus)