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Elisabeth Selbert (1896-1986), Juristin und Politikerin

Bald nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Elisabeth Selbert von der amerikanischen Besatzungsmacht eine große Wohnung in der Goethestraße 74 zugewiesen, in der sie auch ihre Kanzlei betrieb und die zudem als Treffpunkt für Sitzungen der Kasseler Sozialdemokraten diente.

Dass sich der Grundsatz der Gleichberechtigung in der deutschen Verfassung wiederfindet, gilt heutzutage als selbstverständlich. Aber als nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine deutsche Verfassung entstehen soll, ist der Grundgedanke der in allen Bereichen der Gesellschaft verwirklichten Gleichberechtigung eine nahezu utopische Vorstellung. Dass die Formulierung: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ uneingeschränkt in unserer Verfassung auftaucht, verdanken wir vor allem dem beherzten Einsatz von Elisabeth Selbert, die ihn u. a. durch die Mobilisierung einer breiten (Frauen-) Öffentlichkeit im Parlamentarischen Rat durchsetzte.

Sie ist eine von vier Frauen unter insgesamt 65 Abgeordneten, die im Parlamentarischen Rat (1948/49) über die deutsche Verfassung beraten. Ihre Forderung, diese Formulierung im Grundgesetz zu verankern, wird vom Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates abgelehnt. Von dieser Niederlage lässt sich Selbert jedoch nicht abschrecken und wendet sich an die Öffentlichkeit. Den darauffolgenden Beschwerden und dem öffentlichen Druck muss sich der Rat beugen und nimmt am 18. Januar 1949 den Gleichheitsgrundsatz als unveräußerliches Grundrecht, dem sich alle anderen Gesetze unterzuordnen haben, in die Verfassung auf (GG, Artikel 3, Absatz 2). Durch diesen Einsatz geht Selbert als die vielleicht wichtigste „Mutter des Grundgesetzes“ in die Geschichte ein.

Elisabeth Selbert (geb. Rohde) wird am 22. September 1896 in Kassel als Tochter einer kleinbürgerlichen Familie geboren und streng protestantisch erzogen. Nach dem Abschluss der Volksschule 1907 wechselt sie zu einer Realschule, wo sie aufgrund ihrer guten Leistungen von der Schulgeldzahlung befreit wird. Da sich ihre Familie (wie viele andere auch) eine höhere Mädchenschule nicht leisten kann, muss Selbert die Realschule ohne Zeugnis und mittlere Reife verlassen. Aus diesem Grund besucht sie zwischen 1912 und 1913 die Kasseler Gewerbe- und Handelsschule des Frauenbildungsvereins (heute: Elisabeth-Knipping-Schule). Nach Beendigung ihrer Ausbildung nimmt sie eine Stelle als Auslandskorrespondentin bei der Kasseler Import-Exportfirma „Salzmann & Co“ an, welche sie kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges wieder verliert. Durch den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften werden viele Frauen in traditionellen Männerberufen beschäftigt. Elisabeth Selbert findet nach dem Krieg eine Anstellung als Postbeamtin im Telegrafendienst.

Während der Novemberrevolution von 1918 lernt Selbert den sozialdemokratischen Kommunalpolitiker Adam Selbert kennen, den sie später heiratet. Nach mehreren Besuchen politischer Veranstaltungen tritt sie in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) ein, in der sie bis 1933 Mitglied des Bezirksvorstandes in Kassel ist.

Während ihrer Zeit in der SPD setzt sie sich immer wieder für das Frauenrecht ein und kämpft für die Gleichberechtigung. Nachdem sie 1926, durch ihren Ehemann ermutigt, als Externe ihr Abitur besteht, widmet sie sich dem Studium der Rechts- und Sozialwissenschaften an den Universitäten Marburg und Göttingen. Dort ist sie eine von lediglich fünf Frauen unter insgesamt 300 Studenten. 1930 schließt sie ihr erstes juristisches Staatsexamen ab und promoviert über das Thema „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Die Abkehr vom Verschuldungs- und die Anerkennung des Zerrüttungsprinzips, wie von Elisabeth Selbert in ihrer Dissertation gefordert, wird in Deutschland erst 1977 festgeschrieben. Sie war (nicht nur) in dieser Beziehung ihrer Zeit weit voraus.

Im Oktober 1934 legt sie ihr zweites juristisches Staatsexamen ab und wird im Dezember, kurz bevor das nationalsozialistische Regime den Zugang für Frauen zum Anwaltsberuf untersagt, zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Als Jurist und Rechtsanwalt  (so wird sie sich immer nennen) arbeitet sie in ihrer Kanzlei mit einigen Anwälten zusammen, die versuchen, die Möglichkeiten des Justizsystems zu nutzen, um Menschen vor Verfolgung, Zwangsarbeit, Dienstverpflichtungen und Konzentrationslagern zu schützen. Am 22. Oktober 1943 wird bei einem Luftangriff der alliierten Streitkräfte auf Kassel die Kanzlei zerstört. Fortan muss Elisabeth Selbert täglich von Melsungen, wo sie jetzt wohnt, nach Kassel und zurück zu Fuß gehen, um ihren Klienten beizustehen.

Nach Kriegsende widmet sich Elisabeth Selbert wieder verstärkt ihrer Arbeit in der SPD und wird 1946 Mitglied im Hessischen Landtag. Nach ihrer Arbeit im Parlamentarischen Rat konzentriert sie sich hauptsächlich darauf, in den ersten Deutschen Bundestag gewählt zu werden. Sie ist sich ihres Mandates derart sicher, dass sie sich bereits ein Dauerquartier in Bonn reserviert. Sie erhält aber von der hessischen SPD keinen sicheren Listenplatz und so kein Mandat für den Bundestag und kann dort ihr Anliegen nicht weiter verfolgen, die Gleichberechtigung in Gesetzen zu konkretisieren. Fortan konzentriert sie sich auf ihre Arbeit im hessischen Landtag, in den sie, auf der Liste der SPD zwar nicht abgesichert, als kämpferische Direktkandidatin aber dennoch einzieht.

1956 wird ihr aufgrund ihrer herausragenden Leistungen das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. 1958 zieht sich Selbert aus der Politik zurück und erhält in den darauffolgenden Jahren bedeutende Auszeichnungen, wie zum Beispiel den Wappenring der Stadt Kassel oder die Wilhelm-Leuschner Medaille. Außerdem wird noch eine Stiftung ins Leben gerufen, die ihren Namen trägt  und den Einsatz für Frauenrechte würdigt. 1984 wird sie zur Ehrenbürgerin Kassels ernannt. Am 9. Juni 1986 stirbt Elisabeth Selbert im Alter von 90 Jahren in Kassel. Ihre Vorstellungen, einmal hessische Justizministerin oder Bundesverfassungsrichterin zu werden - Ämter, für die sie hoch qualifiziert war - hatten sich nicht verwirklichen lassen. Ihren Nachlass wird der Enkel Axel Selbert später dem Archiv der deutschen Frauenbewegung und nicht dem SPD-Archiv, dem Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung, übergeben.

Nach ihr sind in Kassel die Elisabeth-Selbert-Promenade in der Unterneustadt, das Bürgerhaus in Niederzwehren und der zentrale Saal des Bundessozialgerichts benannt. Eine nach ihrem Ehemann benannte Straße, die Adam-Selbert-Straße, existierte schon früher.

 

Quelle

Wolfgang Matthäus / Mareike Görtz (Hg.), Wege von Frauen. Kasseler Straßennamen, Geschichte und Geschichtspolitik, Kassel 2006 (Schriften der WERKSTATT GESCHICHTE an der Albert-Schweitzer-Schule Kassel Heft 6)