Sigmund Aschrott
Sigmund Aschrott und der Vordere Westen
Sigmund Aschrott ist der Gründer des Vorderen Westen, dem damaligen Hohenzollernviertel. Zumindest in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts wohnte er auch in der Annastraße 18. Das Gebäude befand sich an der nordöstlichen Seite der Kreuzung Annastraße / Parkstraße, wo heute das Gebäude Annastraße 10 steht.
Lebenslauf
Sigmund Aschrott wurde am 14. Juni 1826 als Sohn von Regine Aschrott und dem Kaufmann Herz Seligman Aschrott in Hochheim am Main geboren. In Kassel betrieben sie ein Leinengeschäft und in Hochheim besassen sie ein Weingut und verschiedene Ländereien. 1838 siedelte die Familie endgültig nach Kassel über. Nach einer Lehrzeit in einer Kolonialwarengroßhandlung in Frankfurt zog der Sohn Sigmund 1844 wieder nach Kassel, baute das väterliche Unternehmen aus und führte die Kasseler Leinenindustrie zu Weltgeltung. Ab 1860 begann Aschrott, im Westen der Stadt ein neues Kassel zu schaffen und wurde zum ebenso genialen wie geschäftstüchtigen Gründer des Vorderen Westens. Obwohl die Stadt dem engagierten Unternehmer viel zu verdanken hatte, bot sie ihm kein Ehrenamt an, der Grund, warum Sigmund Aschrott im hohen Alter nach Berlin ging, wo er 1907 zum Geheimen Kommerzienrat ernannt wurde. Fast 89-jährig starb Aschrott am 05. Mai 1915 in Berlin. Dort liegt er auf dem großen jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.
Lebenswerk
Er gilt als der Vater der Kasseler Textilindustrie. Voller Elan stieg Sigmund Aschrott in das Leinengeschäft seines Vaters an der Oberen Karlsstraße ein. Mit Leistungsprämien für die Mitarbeiter, neuen Produkten und modernen Fertigungsverfahren brachte er das Unternehmen auf Erfolgskurs. Das war die Voraussetzung für seine größte unternehmerische Leistung. Denn ohne Sigmund Aschrott gäbe es den Vorderen Westen nicht.
Die Kasseler Altstadt war längst an ihre Grenzen gestoßen, als Aschrott anfing, das damalige Hohenzollernviertel zu erschließen. Ein mutiger Schritt, denn Unterstützung der Kasseler Stadtverwaltung gab es zunächst nicht. Dort sah man in erster Linie das finanzielle Risiko und nicht die städtebaulichen Möglichkeiten eines neuen Wohnviertels.
Ab 1860 kaufte Aschrott zwischen Ständeplatz und Querallee im großen Stil Grundstücke. Für einige Bauern war das ein Glücksfall. Sie bekamen für ihre Äcker und Wiesen ein kleines Vermögen und konnten sich plötzlich eine der stattlichen Villen in dem neuen Viertel leisten. Daneben entstanden repräsentative Wohnungen mit hohen, lichtdurchfluteten Räumen. Grünanlagen, Vorgärten, Alleen und begrünte Plätze sollten für eine hohe Wohnqualität sorgen. Keine Industriebetriebe und kein Gewerbe, das Lärm, Qualm oder üblen Geruch verursacht, so waren die Vorgaben. Kein Wunder, dass das Hohenzollernviertel schnell zu einem ausgesprochen begehrten Quartier wurde und die Grundstückspreise deutlich anstiegen. Davon hat Aschrott profitiert. Das unternehmerische Risiko hatte sich gelohnt.
Zeit seines Lebens war er aber auch von Anfeindungen betroffen. Die Kaufleute der Kasseler Innenstadt sahen durch das neue Hohenzollernviertel die Abwertung ihrer Geschäftslage, die damals noch eigenständige Gemeinde Wehlheiden befürchteten durch den wachsenden neuen Stadtteil ihre Eingemeindung, die Linken bezeichneten ihn als Grundstücksspekulanten und für die Rechten war er der Inbegriff des reichen Juden, der sein Geld dubiosen Machenschaften verdankte. Seinem städtebaulichen Engagement stand die Stadt Kassel sehr skeptisch gegenüber und versuchte immer wieder, ihn durch Bauvorschriften zu behindern. Während der Nazizeit wurde der von ihm gestiftete Aschrottbrunnen vor dem Kasseler Rathaus zerstört.
Die Lebensleistung des erfolgreichen und visionären Unternehmers konnte dieser Akt der Zerstörung nicht schmälern. Er ist der Gründer des Vorderen Westens, dessen Planung und Erschließung er auf eigenes Risiko betrieben hat. Das hat sich nicht nur für Sigmund Aschrott rentiert. Er schenkte 1911 der Stadt den Florapark, damit dort die Stadthalle gebaut werden konnte. Und er stiftete die Grundstücke für die Advents- und Rosenkranzkirche sowie die englische Kirche an der Murhardstraße. Das Diakonissenhaus verdankt ihm ein großes Grundstück für einen Erweiterungsbau, und der Aschrottpark trägt seinen Namen. Die Lebensqualität im Vorderen Westen konnten selbst die Bomben des 2. Weltkriegs nicht zerstören. Die Zeugnisse der Lebensleistung Aschrotts sind immer noch sichtbar, die Stadt verdankt seinem unternehmerischen Mut eines seiner schönsten Quartiere.
Sigmund Aschrott in der Karikatur
1906 feierte Sigmund Aschrott seinen 80. Geburtstag im Schlosshotel Wilhelmshöhe. Zu diesem Anlass erstellten seine Wiener Verwandten eine Geburtstagszeitung, in der sie den Jubilar würdigten. Sie war angereichert mit Zeichnungen des damals populären Wiener Künstlers Theodor Zasche. Eine Kopie dieser Festzeitung befindet sich im Kasseler Stadtmuseum. Eine der Zeichnungen zeigt den bereits hochbetagten Aschrott an seinem Schreibtisch in Berlin. Im Text heißt es dazu:
Von Akten und Plänen erdrückt,
Von neuen Ideen entzückt,
So sitzet, des Lebens froh,
Im Grundstückverwaltungsbureau
Vom grauenden Morgen bis spat
Ein strammer Kommerzienrat,
den jeder von uns doch wohl kennt,
Der hält ein strenges Regiment.
Wer nicht pariert,
Ist schon quittiert,
Darauf versteht er sich famos.
Von Sport und Spiel hält er nicht viel,
Dann das sind Kinkerlitzchen bloß.
Kragen gesteift,
Hose gereift,
Derlei verlängert ungemein,
Alles, was klein,
Dünkt ihm nicht fein,
Ratet, wer kann das sein?
Literatur
Knobling, Annette / Schrader, Wolfgang; Sigmund Aschrott (1826 – 1915) – Ein weit ausgreifender Stadtgestalter oder ein gewöhnlicher Grundstücksspekulant. Kassel 1986
Siemon, Rolf; Der „Vordere Westen“ von Kassel. Die Entwicklung eines gehobenen Wohngebietes seit dem 19. Jahrhundert. Göttingen 1988
Baetz; Aufzeichnungen über den Geheimen Kommerzienrat Sigmund Aschrott (1826 - 1915) und dessen Bedeutung für die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung von Kassel. Kassel 1952
Demme, Roland; Der jüdische Kaufmann, Verleger und Stadtplaner Sigmund Aschrott - eine Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Handlungsraum Hohenzollernviertel - Ausdruck einer epochal beachtlichen Raumgestaltung. Kassel 2006 (als pdf-Datei zum herunterladen, 16,3 MB)