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Martin Niemöllers Kasseler Rede 1959

Der 25. Januar 1959 sollte zu einem denkwürdigen Tag in der Geschichte des Vorderen Westens werden. Die aufsehenerregenden Worte, die  Martin Niemöller  an dessen Abend in der Aula der Heinrich-Schütz-Schule sprach, lösten einen Sturm der Entrüstung in der Bundesrepublik aus, der bis in das Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß reichte und selbst im Ausland Beachtung fand.

Die „Christen gegen Atomgefahren – Vereinigung der Freunde des Völkerfriedens“  hatten den Präsidenten der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau zusammen mit  Prof. Walter Hagemann  nach Kassel eingeladen, um auf der „Mahn-Feierstunde“ mit dem Thema „… denn sie wissen, was sie tun …“ zu sprechen. Sowohl Niemöller als auch Hagemann waren engagierte Gegner der Pläne zur atomaren Aufrüstung Deutschlands, gegen die in Kassel 1958 Arbeiter von Henschel gestreikt hatten. Niemöllers Worte wurden in der Presse zum Teil ungenau wiedergegeben. Auf der Grundlage eines Tonbandmitschnittes der DEFA, der ohne sein Wissen erfolgt war, veröffentlichte Niemöller einige Zeit später den vollständigen Text seiner Rede, in der er an der entscheidenden Stelle sagte:

„Hier war die Rede von gerechten Mitteln, die im Kriege angewandt werden müssen. Nun, wir haben dieser Theorie längst den Abschied gegeben, seitdem General Ludendorff uns im ersten Weltkrieg den totalen Krieg vordemonstriert und dann aufgenötigt hat; und da sind eben die Mittel total, d. h. jedes Mittel ist recht, catch as catch can. Jedes Mittel, womit man seinen Gegner klein kriegen kann, kann angewandt werden. Und darum ist heute die Ausbildung zum Soldaten, die Ausbildung der Kommandos im zweiten Weltkrieg, die hohe Schule für Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen.“ (Was Niemöller sagt – wogegen Strauß klagt. Niemöllers Kasseler Rede, Darmstadt 1959, S. 5)

Die Empörung war insbesondere durch die zum Teil sinnentstellende Berichterstattung der rechtskonservativen Kasseler Post unter der Schlagzeile „Wehrdienst hohe Schule des Berufsverbrechertums“ ausgelöst worden. In ihren Kommentaren polemisierte die Zeitung fortan zum Teil demagogisch eindeutig gegen Niemöller und oppositionelle Bewegungen in der jungen Republik. So hieß es dort am 28. Januar auf der Titelseite, deren Hauptschlagzeile war: „Niemöller vor Gericht?“:

„Es wäre aussichtslos, diese Mahnung [zum sorgsamen Umgang mit der Meinungsfreiheit] auch an den Kirchpräsidenten Niemöller (‚ein evangelischer Christ‘) und den Universitätsprofessor Dr. Hagemann (‚ein katholischer Christ‘) zu richten, deren sogenannte Mahn-Feierstunde in Kassel sich als ein sakral und kulturell getarntes Propaganda-Unternehmen eindeutiger Art entpuppt hat. Sie ergeht nun aber über jene hinweg an alle politischen, kirchlichen und richterlichen Instanzen, die für den Schutz vor Volksverhetzung, für die Sauberkeit der Kirche und ihrer Diener, für die Gleichheit aller auch vor dem Strafgesetz zu sorgen haben. Ebenso und nicht zuletzt, ergeht sie an die Kasseler Stadtbehörde, deren Bereitwilligkeit zur Verfügungstellung einer Schulaula den Skandal erst möglich gemacht hat. Man musste dort wissen, wes Geistes Kind die beiden Sprecher sind, und wenn man’s jetzt erst erfahren haben sollte, wäre eine öffentliche Erklärung des Bedauerns darüber fällig, dass man sein Hausrecht zu Hetze und Verleumdung missbrauchen ließ. Bleibt diese klare Distanzierung (…) aus, müssen die Verantwortlichen des Magistrats den Spruch ‚cum tacent, clamant‘ gegen sich gelten lassen. Er heißt auf deutsch: Wer schweigt, stimmt zu.“

Am gleichen Tag befasste sich  bereits das Bundeskabinett mit Niemöllers Rede und folgte einstimmig der Beschlussvorlage von Bundeskanzler Adenauer:   „Das Kabinett verurteilt auf schärfste die Beschimpfung nicht nur der Bundeswehr, sondern aller Soldaten durch Kirchenpräsident Niemöller.“   Gleichzeitig beschloss man: „  Das Kabinett beauftragt den Bundesminister für Verteidigung im Benehmen mit dem Bundesminister der Justiz, die Angelegenheit gegen Kirchenpräsident Niemöller weiter zu verfolgen.“   Verteidigungsminister Strauß stellte daraufhin Strafantrag beim Kasseler Landgericht. Auch der Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages in Bonn befasste sich mit Niemöllers Kasseler Rede und verurteilte sie als Verunglimpfung der Bundeswehr, während man den Soldaten Fürsorge und Achtung zusicherte.

Monatelang tobten hitzige Debatten um die Äußerungen des Kirchenpräsidenten.  Diether Posser,  später Minister in Nordrhein-Westfalen, und der spätere Bundespräsident  Gustav Heinemann  übernahmen den Rechtsbeistand Niemöllers. Sie gingen davon aus, dass seine Worte in der Presse falsch wiedergegeben worden seien und betrachteten das als Teil einer auch mit Unwahrheiten arbeitenden, bereits jahrelangen Hetze gegen den Kirchenpräsidenten.

Am 21. Mai 1959 stellte die Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt das Verfahren gegen Niemöller ein, das auf die Strafanzeigen des Verteidigungsministers, mehrerer hundert Bundeswehroffiziere sowie einiger ehemaliger Wehrmachtsoffiziere eingeleitet worden war. Wie die Frankfurter Rundschau dazu schrieb, begründete sie das damit, dass Niemöller eine absichtliche Beleidigung nicht nachgewiesen werden konnte. Der Zusammenhang seiner Rede spreche nicht für eine beleidigende Absicht. Niemöller habe nur die Soldaten vor der Ausübung ihres Berufes in einem etwaigen Krieg gewarnt. Gerade angesichts von Niemöllers Haltung im Dritten Reich anerkannte die Staatsanwaltschaft ausdrücklich dessen Recht, sich mit Werturteilen in die öffentliche Debatte einzumischen. Niemöller selbst bedauerte, dass es nicht zum Prozess gekommen sei, und die Fülle des Materials, das ihm aus dem In- und Ausland zugeschickt wurde, nicht vor aller Öffentlichkeit ausgebreitet werden könnte.“ (FR, 23.5.1959)