Rathenauplatz (urspr. Wilhelmsplatz)
Was einst ein erkennbarer Platz war, an dessen Rand das „Wehlheider Schlösschen“ das Erscheinungsbild verzauberte, kann heute als solcher nicht mehr wahrgenommen werden. Dem ursprünglichen Wilhelmsplatz an der Einmündung von Murhardstraße und Königstor sowie der Adolfstraße in die Wilhelmshöher Allee widerfuhren im Verlauf der Zeit grundlegende Eingriffe und Veränderungen, verursacht vor allem durch die Pläne der Nationalsozialisten in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts und später in der Nachkriegszeit durch Bedürfnisse des motorisierten Verkehrs und neue Straßenführungen.
Mit der Zeit verlor der Platz dadurch mehr und mehr sein eigentliches Gesicht, seinen Charakter als Platz, an dem mehrere Straßen zusammenliefen und der durch Gebäude - zumindest zur Hälfte - eingefasst war. Kein Wunder, dass er schon vor Jahrzehnten als (nicht wieder gut zu machender) „Schönheitsfehler“ der Stadt Kassel angesehen wurde und selbst die Bewohner des Stadtteils heute selten wissen, wo denn der Rathenauplatz eigentlich liegt. Vom Platz bleibt eine Verkehrsinsel.
Die Gegend wird heute geprägt durch die Gebäude der Universität Kassel (im Volksmund nach wie vor „Ingenieurschule“), weitere Neubauten der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts, das Finanzgebäude aus dessen 30er Jahren sowie die Gebäude eines Autohauses und einer zukunftsträchtigen Forschungseinrichtung des Fraunhofer Instituts.
Kaum etwas erinnert mehr an einen Platz oder eine Brauerei, die es hier auf dem Gelände der Universität einmal gab. Nichts lässt ahnen, dass diese Gegend im 19. Jahrhundert Bewohnern der Stadt dazu diente, sich hier ihre „Sommerresidenz“ zu errichten, wie dies die Brüder Murhard taten, die an der Wilhelmshöher Allee lebten. Wer sieht dem Finanzgebäude das Zeugnis dafür an, dass und wie die Nationalsozialisten im Rahmen einer gigantomanischen Stadtplanung die Strukturen der Stadt und den Stadtgrundriss grundlegend verändern wollten?
Vom Platz zur Verkehrsinsel
Den spätestens mit der nationalsozialistischen Stadtplanung begonnenen Ausbau der Wilhelmshöher Alle, mit dem die Aufgabe der alten Fluchtlinien und ihre Verbreiterung verbunden war und der zu einem weitgehend vierspurigen Ausbau führte, realisierte die städtische Planung vor allem in den Jahrzehnten nach dem Krieg, „so dass sich die Allee heute mit ihrer ausgeräumten Breite von 40m in einem Zustand präsentiert, den man schon in den 1920er und 1930er Jahren als erstrebenswert“ ansah (Wiegand, S. 404). Der Rathenauplatz wurde 1961 zur Großbaustelle. In der Kasseler Post hieß es:
„Großbaustelle ist seit wenigen Tagen der Rathenauplatz, dessen Kreuzungsverkehr mit Rücksicht auf die Verbreiterung der Wilhelmshöher Allee neu und sinnvoller als bisher gelenkt werden soll. (…) Rechtsabbieger und Verkehrsinseln sollen den Strom der Kraftfahrzeuge schon vor den Straßeneinmündungen ihrer Richtung entsprechend aufgliedern. Bisher war es unter Kraftfahrern üblich, sich auf dem Rathenauplatz mit Handzeichen über die Vorfahrt zu einigen.“
Die Verkehrsführung am Platz erfuhr danach noch einige Umgestaltungen. Letztlich ist deshalb die ursprüngliche „Platzidee“ des Wilhelmsplatzes nicht mehr wahrnehmbar.
In den 1920er Jahren war der Platz dem aus reaktionären und antisemitischen Motiven heraus ermordeten Außenminister Walther Rathenau gewidmet worden. Als diese Gesinnung in Deutschland zur Herrschaft kam, machten die Nationalsozilisten dies rückgängig. Seit 1947 erinnert die Namensgebung wieder an einen liberalen Demokraten der ersten deutschen Republik.
aus: Wolfgang Matthäus (Hg.), Plätze im Vorderen Westen. Geschichte(n) eines Kasseler Stadtteils, Kassel 2010 (Schriften der Werkstatt Geschichte an der Albert-Schweitzer-Schule Kassel Heft 8)