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Studentenprotest 1967

Am 2. Juni 1967 wurde bei einer Demonstration in Berlin gegen den Staatsbesuch von Schah Mohammad Reza Pahlavi der pazifistisch eingestellte 26-jährige Student Benno Ohnesorg mit einem Schuss in den Hinterkopf durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras getötet. Sein gewaltsamer Tod führte zur Ausweitung der Studentenbewegung weit über Berlin hinaus und trug auch zu ihrer Radikalisierung bei: ein Einschnitt in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte mit weitreichenden gesellschaftspolitischen Folgen.

Die durch Ohnesorgs Tod ausgelöste Protestwelle erreichte wenige Tage später auch Kassel und insbesondere den Vorderen Westen. Ein breites Bündnis von Studierenden und Jugendlichen hatte für den Tag der Beerdigung des Studenten zu einem Schweigemarsch aufgerufen, der an der Stadthalle begann und über den Bebelplatz und die Friedrich-Ebert-Straße zum Friedrichsplatz führte.

Die Hessische Allgemeine berichtete im Vorfeld am 9. Juni 1967:

Schweigemarsch beginnt an der Stadthalle

AStA-Ring rechnet mit 1000 Demonstranten - Aufruf an Studierende und Schüler

Kassel (h). Mit einem Aufruf an alle Kasseler Studenten, Schüler und Jugendlichen fordern der AStA-Ring der in Kassel Studierenden (mit Ausnahme der Staatlichen Ingenieurschule für Bauwesen und der Musikakademie), der Kasseler Jugendring und die Evangelische Studentengemeinde zur Teilnahme an einem Schweigemarsch auf, der am Freitag, 9. Juni, um 17.15 Uhr von der Stadthalle zum Friedrichsplatz führen soll. Mit der Demonstration, über deren Vorbereitung wir bereits gestern berichteten, soll „gegen die zunehmende Einschränkung der im Grundgesetz garantierten Rechte" protestiert werden. Dazu nahmen gestern vor der Presse der Vorsitzende des AStA-Rings, Hans Leppin, und Sprecher der Studierenden Stellung. Der Tod des Berliner Studenten Benno Ohnesorg, der bei den Ausschreitungen während des Schah-Besuchs erschossen wurde, sei nicht der alleinige Anlaß der Kasseler Demonstration, wurde gestern erklärt. Vielmehr wolle die Jugend die bedenklichen Methoden des Polizei-Einsatzes anprangern und auf die hier sichtbar gewordene Gefährdung der demokratischen Grundordnung des Staates aufmerksam machen. Einhellig verurteilten die Sprecher der Kasseler Studierenden und Jugendlichen die in Berlin auch vorgekommenen „Provokationen einzelner, die die politische Tätigkeit und Organisation der Berliner Studenten schädigen". Sicher seien die Zwischenfälle in Berlin nicht allein der Polizei zuzuschreiben, das psychologisch ungeschickte Verhalten der Uniformierten aber gebe Anlaß zu Besorgnis.

Ordnungsdienst gegen Störgruppen
In Kassel wird mit etwa 1000 Demonstranten gerechnet. Die Gefahr der Unterwanderung des von der Stadt genehmigten Schweigemarsches durch radikale Störgruppen soll ein Ordnungsdienst bannen. „Außerdem haben wir Leute mit Fotoapparaten dabei, die jeden eventuellen Zwischenfall beim Marsch oder der anschließenden Kundgebung auf dem Friedrichsplatz zur späteren Feststellung der Beteiligten aufnehmen werden", sagt Hans Leppin, der mit der Kasseler Polizei den Ablauf der Veranstaltung eingehend erörterte. Die Staatliche Ingenieurschule für Bauwesen ließ durch ihren Studierenden-Sprecher erklären, daß sie sich offiziell nicht an der Demonstration beteiligen werde. Der Zeitpunkt sei verfrüht, da zunächst einmal die Berliner Vorfälle aufgeklärt werden müßten. Die Staatliche Werkkunstschule, die - wie berichtet - ihr Sommerfest nur am Samstag (10. Juni) und nicht auch am Freitag feiern will, erlebt durch diese aus Solidarität vorgenommene Einschränkung einen erheblichen Einnahmeausfall. Ihr AStA-Sprecher: „Wir werden ein Defizit von etwa 2400 DM tragen müssen, von dem wir noch nicht wissen, wie wir es bezahlen sollen." Geplant ist eine Spendensammlung.

 

Über den Ablauf der Demonstration stand in der Hessischen Allgemeinen am 10. Juni 1967:

Siebenhundert beim Schweigemarsch

Demonstration verlief ohne Störung

Kasse l (h). Im Schweigemarsch zogen gestern gegen abend rund 700 Kasseler Studierende und Jugendliche von der Stadthalle zu einer Demonstration auf den Friedrichsplatz. Anlaß zu dieser Aktion war die Beisetzung des bei den Unruhen anläßlich des Schah-Besuchs in Berlin ums Leben gekommenen Studenten Benno Ohnesorg. Ziel der Demonstration in Kassel jedoch war mehr als bloße Anteilnahme. Sie galt vor allem dem Protest gegen jede staatliche Maßnahme, die demokratische Grundrechte einschränkt. Beispiele dazu gaben die jüngsten Berliner Ereignisse, Vorfälle in Hamburg und München.

Ohne jegliche Störung bewegte sich der Zug durch die Stadt. Die Polizei hatte wenig Mühe, den fließenden Verkehr, der hauptsächlich auf der anderen Fahrbahnseite stadtauswärts rollte, in Gang zu halten. Auffallend war, daß die Polizei kaum in Erscheinung trat. Entlang des Zuges waren junge Leute als Ordner verteilt. Am Straßenrand blieben Passanten stehen und erhielten Flugblätter. Auch die Zuschauer blieben ruhig. Es gab keine Zwischenrufe.

„Es ist in der Demokratie ein Grundrecht und Aufgabe der Bürger und somit auch der Studenten, zu politischen Fragen Stellung zu nehmen." Dieser Satz steht in dem Flugblatt, das der Kasseler Jugendring und die Sprecher der an der Aktion beteiligten Studierenden-Vertretungen unterzeichnet hatten.

„Wachsam sein Pflicht"
Ähnliche Worte waren bei der Kundgebung auf dem Friedrichsplatz zu hören, wo sich zu den Demonstranten zahlreiche Kasseler Bürger gesellten. „Studenten haben aus dem Vorrecht ihrer Ausbildung die Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, die ihnen das Studium ermöglicht, wachsam zu sein, wachsam gegen alles, was die demokratische Grundordnung gefährdet", sagte einer der Sprecher in der Kundgebung, die immer wieder durch Beifall unterbrochen wurde. „Wenn wir es mit der Demokratie ernst nehmen, dann sollten wir jede Kritik an autoritären Methoden, jede freie Meinungsäußerung, begrüßen."

Gegen Auswüchse
Deutlich lehnten alle Redner die Auswüchse ab, die sich in den „Albernheiten einiger Wirrköpfe", etwa der „Puddingwerfer" und Maoistengruppe in Berlin gezeigt hätten. Wenn aber Tausende junger Menschen gegen eine zunehmende Staatsgewalt und die von ihr mehrfach geübte Überschreitung ihr zustehender Rechte protestierten, dann dürfe die Jugend nicht mehr schweigen. Immer wieder tauchte die Erinnerung an die Ereignisse von Berlin auf. Hier, so wurde wiederholt erklärt, sei vom Senat der Stadt und der Polizei gezielt gehandelt worden. Hier habe man mit Gewalt eine Entwicklung zu stoppen versucht, statt ein Gespräch mit der Studentenschaft zu führen. Wenn, der Versuch gemacht werde, Menschen mundtot zu machen, dann könne Ruhe nicht mehr erste Bürgerpflicht sein.

Podiumsdiskussion
Diskussion statt geballte Faust! Das war der Grundgedanke aller gestern abend erhobenen Forderungen. Demnächst soll durch den Kasseler ASTA-Ring dazu Gelegenheit gegeben werden. Vorsitzender Hans Leppin kündigte eine Podiumsdiskussion über die Berliner Vorfälle in Kassel an.

 

Demonstrierende Studierende – das war wohl einem Teil der Kasseler Bevölkerung im Juni 1967 bereits zuviel, auch wenn sie sich derart moderat verhielten und sich ausdrücklich von weitergehenden und radikaleren Protesten abgrenzten.

So hieß es in einem Leserbrief:

Zum Schweigemarsch der Kasseler Studierenden

Kassel ist auch heute noch nicht Universitätsstadt. Es ist unerträglich, trotz wichtiger Zeiterscheinungen dem Bürger zuzumuten, das Überhandnehmen der Schweigemärsche und Demonstrationen stillschweigend hinzunehmen. Was berechtigt junge Menschen in der Ausbildung und Entwicklung, bei allen möglichen fachlichen und politischen Anlässen in unserer Notzeit trotz ständiger Feststellung der mangelnden Unterstützung durch die „Kulturnation" zu solcher Arroganz? Das Spektakuläre sollte dem wirklichen Notstand vorbehalten bleiben. Die Leistung ist auch eine Folge der Stille. Erst sie legitimiert.

E. Wagenknecht Kassel, Westring 64