Die Umbenennung der Malwida von Meysenbug-Schule 1940
Neun Jahre lang, vom 17. September 1930 bis zum 31. Dezember 1939, trug die Heinrich-Schütz-Schule in Kassel den Namen Malwida von Meysenbugs. Er war ihr mit dem Umzug in das heutige Gebäude und der gleichzeitigen Verstaatlichung verliehen worden, um an die Ursprünge des zu dieser Zeit "Lyzeums mit Studienanstalt" zu erinnern: an den Kampf des von Helene Lange repräsentierten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung um gleichberechtigte Bildungschancen für Frauen und Mädchen; an die Schaffung des ersten zur Hochschulzulassung führenden Bildungsangebotes der Region für Frauen und Mädchen mit der Errichtung privater realgymnasialer Kurse im Jahre 1904 durch den "Verein Frauenbildung-Frauenstudium" unter maßgeblicher Führung Julie von Kästners; schließlich an die Übernahme dieser Kurse durch die Stadt Kassel als "Studienanstalt der realgymnasialen Richtung" im Jahre 1909, der später ein Lyzeum angegliedert werden sollte. Vor allem machte der preußische Staat Malwida von Meysenbug zur Namenspatronin der ersten wirklich höheren Mädchenschule Kassels, weil er Malwidas Ziel eines "selbstdenkenden, prüfenden, schöpferischen Menschen", wie Staatsminister Grimme in seiner Rede anlässlich der Übergabe von Gebäude und Schule an den preußischen Staat Malwidas Lebenswerk interpretierte, programmatisch als frühe Formulierung sozialdemokratischer Bildungsgrundsätze der Zeit empfand.
Wenige Jahre später, 1938, erschien der Abteilung für höheres Schulwesen beim Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau der Name der Schule "für eine deutsche Mädchenbildungsstätte nicht mehr geeignet". Aber es dauerte noch fast zwei weitere Jahre, bis - am Ende in einer Art "Nacht- und Nebelaktion" - mit Erlass vom 30.12.1939 die Schule zum 1.1.1940 in Heinrich-Schütz-Schule umbenannt wurde. Schule und Öffentlichkeit erfuhren dies - während der verlängerten Weihnachtsferien - nachträglich am 13. Januar aus der lokalen Presse. Auf dem Hintergrund des Identitätsverlustes, den die Schule im Nationalsozialismus erfuhr und auch selbst mit trug, verwundert die Umbenennung des Jahres 1940 nicht. Sie war konsequent, denn zu deutlich stand das seit 1933 propagierte Idealbild der "Hausfrau und Mutter" im Gegensatz zu Traditionen der Schule und zu Malwidas Lebenswerk. Eher erhebt sich die Frage, warum die Schule nicht bereits in den frühen Jahren nationalsozialistischer Herrschaft umbenannt, ihr Name als "nicht mehr geeignet" empfunden worden war.
Wenn die Schule nicht bereits in den Anfangsjahren nationalsozialistischer Herrschaft umbenannt worden war, so lag dies sicher vor allem auch an Bildungsferne und männlicher Prägung zuständiger Parteiorganisationen, denen Malwida von Meysenbugs Name vermutlich nichtssagend war und blieb. Bezeichnenderweise gingen die schließlich zum Erfolg führenden Versuche zur Umbenennung nicht von lokalen Gliederungen der Partei, auch nicht von zentraler Seite aus, sondern von der Abteilung für höheres Schulwesen beim Oberpräsidenten. Im Jahre 1939 bedurfte es eines intensiven Schriftwechsels, um schließlich das Berliner Ministerium von der "Zumutung", im nationalsozialistischen Staat eine Schule nach Malwida von Meysenbug zu nennen, zu überzeugen. Es bedurfte einer gründlichen Lektüre ihres Werkes und einer ausführlichen Interpretation, die die Elle der nationalsozialistischen Weltanschauung anlegte und die - berücksichtig man dies - dann in manchem vielleicht scharfsichtiger war als die zum Teil unpolitischen Inanspruchnahmen am Ende der Republik.
Aus der Rede des preußischen Staatsministers Adolf Grimme anlässlich der Einweihung des neuen Schulgebäudes und der Übernahme der Schule am 17.9.1930 durch den preußischen Staat
(3. Jahrbuch der Malwida von Meysenbug-Schule zu Kassel auf das Jahr 1930/31, Kassel 1931, S. 27f.).
Bei der Suche nach einem neuen Namen für die neue Schule sei man nicht nur durch den Zufall, dass Malwida in Kassel in einem Hause der Schönen Aussicht geboren wurde, auf diesen Namen gekommen. Wahre Persönlichkeit sei überzeitlich. Man wolle die Schule nicht nach ihr benennen, weil eine dankbare Erinnerung zum Ausdruck gebracht werden könne, auch nicht, weil Malwida als eine der stärksten Persönlichkeiten für die Frauenbewegung gearbeitet habe. Was sie zu sagen hatte, ihrer Zeit und ihrem Geschlecht, das gelte auch heute. Sie habe stets danach gestrebt, dass die Frau als ein bewusst freies Wesen neben dem Manne am Ideal des Lebens für Familie, Gesellschaft und Staat mitarbeiten könne. Sie habe immer betont, dass die wichtigste Seite der Frauenbewegung "Bildung" sei, und habe sich die Frage, was Bildung sei, niemals mit Anhäufung von Wissen oder ähnlichem beantwortet. Bildung im höheren Sinne war für sie weder bloßes Wissen noch eine einzige zum Höchstmaß entwickelte Fähigkeit, sondern immer die ethische Durchdringung des ganzen Wesens.
Nie kam es dieser Frau, von Wissensdurst getrieben, darauf an, die Masse des Angelernten zu bewerten, sondern Sinne zu schärfen, das Denkvermögen zu mehren, Phantasie anzuregen, alles nur, um einen selbstdenkenden, prüfenden, schöpferischen Menschen zu erziehen. Das war das Ziel der Malwida von Meysenbug, ein Ziel, das die preußische Unterrichtsverwaltung seit Jahren verfolge. Dieses Ziel bleibt über allen Wechseln der Lehrpläne und Methoden. Dieses Ziel, uns nahezu selbstverständlich, hat aufgestellt und ausgesprochen werden müssen. Malwida von Meysenbug war eine der ersten, die es in dieser Form aussprachen. Später kamen andere Frauen und haben daran gearbeitet, dass dieses Ziel von ihrer Zeit empfunden und angestrebt wurde.
Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau (Abt. f. höh. Schulwesen) an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 26. Apri1 1939
(ZStA Potsdam, Ministerium für Wissenschaft Kunst und Volksbildung. Specialia Cassel Nr. 16.6231 Bd.1, Bl. 134f.).
Die ehemalige Studienanstalt, jetzige staatliche Oberschule für Mädchen in Kassel erhielt im Jahre 1930 den Namen "Malwida von Meysenbug-Schule". Diese Benennung war damals verständlich, da die Gestalt dieser Frau dem Geist der Zeit vor 1933 entsprach. Wie in manchen anderen Fällen wäre schon im Jahre 1933 oder bald danach eine Änderung des Namens von verschiedenen Seiten aus gefordert worden, wenn die Eigenart der Malwida von Meysenbug bekannt gewesen wäre. Sie ist aus dem Blickfeld der Gegenwart gänzlich verschwunden; man hat sich an den Namen gewöhnt und niemand fragt nach seinem Ursprung und Recht. Ich glaube aber, dass eine Umbenennung unbedingt erforderlich ist.
Malwida von Meysenbug, geboren 1816 in Kassel als Tochter eines Geheimen Kabinettsrates des Kurfürsten Wilhelms II. von Hessen-Kassel, gestorben 1903 in Rom, war zweifellos eine hochbegabte, feinsinnige Frau. Die Reinheit ihrer Gesinnung dürfte nicht bestritten werden, wie auch die Tragik ihres Lebens sie uns menschlich näherrückt. Sie gehört aber gemäß der Zeit, die sie formte, einer Geistesrichtung an, die der heutige Staat grundsätzlich ablehnen muss. Sie huldigte zeitlebens in politischer Hinsicht einer liberalistischen, demokratischen Auffassung und war eine begeisterte Verehrerin der Anstifter und Führer aller Revolutionen, die von 1830 bis 1848 Europa erschütterten, weshalb sie auch 1852 aus Berlin ausgewiesen wurde. Für ihr Geschlecht forderte sie die Emanzipation der Frau und trat eifrig in Wort und Schrift für das überragende Recht der Persönlichkeit ein. 50 Jahre ihres Lebens hat sie in England, Frankreich und Italien zugebracht, darunter längere Zeit in London im Hause des bekannten russischen Juden Alexander von Herzen, da sie im Ausland ihr Leben glückhafter gestalten zu können hoffte als in dem Vaterland. Es wäre nicht zu verantworten, wenn man heute ihre beiden Hauptwerke "Memoiren einer Idealistin" und "Individualitäten" den Schülerinnen zur Lektüre in die Hand drückte.
Ich schlage vor, die Schule "Heinrich-Schütz-Schule" zu nennen, einerseits wegen seiner musikalischen Bedeutung, andererseits wegen seiner nahen Beziehungen zu Kassel. (…)
Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau an den Staatssekretär Zschintzsch im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 24.11.1939 ("Persönlich!")
(ZStA Potsdam, a.a.O., B1. 141ff.).
(…) Ich habe nunmehr die Gründe, die zu einer Umbenennung der Schule zwingen, nochmals zusammenstellen lassen und möchte Ihnen Abschrift des anliegenden Vermerks mit der Bitte übersenden, für eine baldige zustimmende Entscheidung einzutreten. Ich lege auf eine beschleunigte Namensänderung um so größeren Wert, weil es höchst unerwünscht sein würde, wenn eines Tages die Partei sich der Sache annehmen und dann vielleicht den staatlichen Stellen den Vorwurf einer allzu langen Beibehaltung des bisherigen Namens machen würde. Für einen baldigen Bescheid würde ich Ihnen sehr dankbar sein.
Heil Hitler!
Ihr sehr ergebener
(Unterschrift)
(Ph. Prinz von Hessen)
Vermerk
über die Umbenennung der staatlichen Malwida von Meysenbug-Schule (Bericht vom 24.6.1939 - Ka 233 und Erlass vom 1.8.1939 E III c 1013).
(…)
Eine kühle Geschichtsbetrachtung wird die hohe geistige Begabung dieser Frau, die bis in ihr 87. Lebensjahr von erstaunlicher Rüstigkeit war, und die Entschlossenheit wie die Durchsichtigkeit ihres Charakters anerkennen, wird ihr das Zeugnis großer Opferberbereitschaft nicht versagen und ihr rein menschlich ein gewisses Mitgefühl entgegenbringen, weil sie zu den tragisch veranlagten Naturen gehört, in denen ein Übermaß von intellektueller Begabung alle von Zeit zu Zeit auflebenden fraulichen Gefühle und mütterlichen Triebe erdrückt.
Etwas ganz anderes aber ist es, wenn eine hervorragende staatliche Oberschule für Mädchen in dem nationalsozialistischen Staat ihren Namen führt. Es wäre möglich, einzelne Äußerungen und Vorstellungen, die vorbildlich sein können, herauszustellen; im Ganzen aber sind Weltanschauung und Leben Malwida von Meysenbugs das genaue Gegenteil von der Haltung, zu der unsere weibliche Jugend erzogen werden soll. (…)
Schreiben des Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau - Abt. für höh. Schulwesen an sämtliche Anstalten des Amtsbezirks, nebst der Abschrift eines Schreibens an die Schriftleitungen der Kurhessischen Landeszeitung, der Kasseler Post und der Kasseler Neuesten Nachrichten in Kassel (Schulakten der Heinrich-Schütz-Schule, A3, Tgb.Nr. 22 vom 12.1.1940)
Der Herr Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung hat durch den Erlass vom 30.Dezember v. J. bestimmt, dass die staatliche Malwida von Meysenbug-Schule in Kassel umbenannt wird und vom l. Januar 1940 ab die Bezeichnung "Heinrich-Schütz-Schule" führt.
Kassel, den 10. Januar 1940
Ich bitte, in Ihrer Zeitung zum Sonnabend oder Sonntag 13. oder 14. d.M. in dem Abschnitt "Aus Kassel" folgende Nachricht aufzunehmen:
(…) Malwida von Meysenbug, geb. 1816 in Kassel, gest. 1901 in Rom, war zweifellos eine hochbegabte, feinsinnige Frau. Die Reinheit ihrer Gesinnung und die Bereitschaft, für ihre Ideale Opfer zu bringen, können nicht bestritten werden, wie auch die Tragik ihres Lebens, das sie zum größten Teil im Ausland verbringen musste, rein menschlich unser Mitgefühl beanspruchen darf. Sie gehört aber gemäß der Zeit, die sie formte, einer durchaus individualistischen und liberalistischen Geistesrichtung an, die der nationalsozialistische Staat grundsätzlich ablehnt. Darum kann eine staatliche Oberschule für Mädchen ihren Namen nicht weiterführen. (…)
In der ersten Hälfte der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts entschied sich die Schulgemeinde für die Beibehaltung der 1940 erhaltenen Bezeichnung und verzichtete darauf den alten Namen wieder anzunehmen. Der vor einigen Jahren erstellte Neubau an der Schule erinnert seit dem Jahr 2011 als „Malwida von Meysenbug-Flügel“ inzwischen wieder an diese herausragende Frau des 19. Jahrhunderts.
Literatur
Wolfgang Matthäus, Malwida von Meysenbug aus nationalsozialistischer Sicht. Unbekannte Dokumente zur Rezeptionsgeschichte, in: Malwida von Meysenbug-Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch 1988, S. 40-66