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Verfolgte Zeugen Jehovas

Die Nazis bekämpften die Zeugen Jehovas (bis 1931 „Ernste Bibelforscher“) mit unerbittlicher Härte und knüpften damit an den Hass völkisch-nationaler Kreise an, der die 1933 etwa 25.000 Mitglieder dieser Religionsgemeinschaft in Deutschland schon vorher getroffen hatte. Für die Nazis galten sie als „Wegbereiter des jüdischen Bolschewismus“. Unter allen religiösen Gruppen wurden die Zeugen Jehovas am härtesten verfolgt und hatten prozentual die meisten Opfer zu beklagen.

Mindestens zwei Mitglieder der Zeugen Jehovas, die im Vorderen Westen lebten, wurden von den Nazis brutal verfolgt: Julius Hochgräfe und Heinrich Mühlhausen, die beide in der Tannenstraße 15 wohnten.

Die Zeugen Jehovas wurden bereits seit April 1933 nach und nach in allen deutschen Ländern verboten, mehr als 10.000 von Ihnen setzten aber ihre Zusammenkünfte unter Anwendung konspirativer Techniken fort, schmuggelten Schriften und stellten im Untergrund Druckerzeugnisse her. Den Hitlergruß und die Mitgliedschaft in NS-Zwangsorganisationen verweigerten sie ebenso wie den Kriegsdienst, was schon früh zu Verhaftungen, Sondergerichtsurteilen und Einweisungen in die Konzentrationslager führte. Der verschärften Repression begegneten die Zeugen Jehovas mit einem reichsweiten Protest Ende 1936, bei der ihnen die Verteilung von etwa 100.000 Flugblättern mit der sog. „Luzerner Resolution“ gelang – eine einmalige Untergrundaktion unter der Herrschaft ders Nationalsozialismus.

Mehrere Kasseler Zeugen Jehovas beteiligten sich an der Verteilung des Flugblattes, unter ihnen auch Julius Hochgräfe. In ihm hieß es unter anderem:     "Das Gesetz Jehova Gottes ist das höchste Gesetz. Er ist erhaben überallem, ... und so erklären ... wir, daß wir Gott mehr gehorchen wollen als den Menschen.“     Der NS-Staat galt als „grausame, heimtückische und böse Macht“.

Nach mehreren Verhaftungswellen wurden mehr als 10.000 Zeugen Jehovas inhaftiert, davon über 2.000 in Konzentrationslagern, wo sie als Häftlingsgruppe der Bibelforscher mit einem violetten Winkel gekennzeichnet wurden. Selbst in den KZs scheiterte aber der Versuch der SS, sie durch Isolierung, Strafkompanie und Misshandlungen von ihrem Glauben abzubringen, am ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl und einem Selbstbehauptungswillen aus dem Glauben heraus. Die Zahl der Todesopfer unter den Zeugen Jehovas liegt bei etwa 1.800, unter ihnen etwa 200-300, die wegen Kriegsdienstverweigerung hingerichtet wurden.

Wilfried Siegner hat die Schicksale von Zeugen Jehovas aus Kassel und der Region eingehend untersucht, darunter auch die von Heinrich Mühlhausen und Julius Hochgräfe, für den der Verein Stolpersteine in Kassel im Jahr 2022   einen Stolperstein vor dem Haus Tannenstraße 15 verlegte.  Seine Biografie findet sich auf der Webseite des Vereins. Über Heinrich Mühlhausen, der bis zu seiner Entlassung aus dem Polizeidienst gleichfalls dort wohnte, schreibt Siegner:

Heinrich Mühlhausen wurde 1905 in Benterode geboren und wuchs dort auf. Von 1927 bis 1928 absolvierte er die Polizeischule in Hann. Münden und war anschließend als Hauptwachtmeister bei der Schutzpolizei in Kassel tätig. In dieser Zeit kam er durch die Tante seiner späteren Frau Minna Kraft mit den Lehren der „Bibelforscher“, wie die Jehovas Zeugen damals genannt wurden, in Kontakt und entschied sich, selbst auch ein Zeuge Jehovas zu werden. Im Mai 1933 heiratete Heinrich seine Minna und das Ehepaar bezog eine Wohnung in Kassel. Ihre gemeinsame Tochter Christa, die drei Jahre später zur Welt kam, beschreibt ihren Vater wie folgt: „Er war immer bemüht, in seinem Leben biblische Grundsätze anzuwenden. Diese Werte prägten alle seine Entscheidungen. Eine seiner Entscheidungen war, in einer Zeit, in der der Nationalsozialismus schnell an Popularität gewann, politisch neutral zu bleiben. Er verweigerte aus Gewissensgründen den Hitlergruß, den Eid auf den Führer und den Dienst an der Waffe. Wegen seiner religiösen Einstellung als Zeuge Jehovas wurde er dann schließlich am 1. April 1934 aus dem Polizeidienst entlassen. Nach seiner Entlassung musste das Ehepaar seine Wohnung in Kassel aufgeben und zog zurück nach Benterode. Heinrich hielt sich mit Gelegenheitsarbeit über Wasser. Unter anderem war er beim Autobahnbau in der Nähe von Kassel beschäftigt.

Trotz des Verbotes der Religionsgemeinschaft blieb Heinrich in seiner Glaubensausübung als Zeuge Jehovas aktiv. Am 15. Mai 1938 erfolgte dann eine Hausdurchsuchung und der Familienvater wurde festgenommen. Nach zwei Tagen Haft im Landgerichtsgefängnis in Göttingen übergab man ihn an die Gestapo Hildesheim. Am 19. Mai 1938 wurde er schließlich mit der Häftlingsnummer 3360 ins KZ Buchenwald deportiert. Dort erhielt er den „Lila Winkel“, ein eigenes Kennzeichen, das die „Bibelforscher“, auf ihrer Häftlingskleidung tragen mussten. In Buchenwald war er zwei Monate in der Strafkompagnie. Das bedeutete Zwangsarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Steinbrüchen – sieben Tage die Woche. Darüber hinaus musste er Folter, Misshandlungen und Schikanen ertragen, darunter auch Briefsperren. Über ein Jahr lang wusste seine Familie nichts über seinen Verbleib und ob er überhaupt noch lebte. Später berichtete er, dass er durch die schwere Arbeit und die mangelnde Ernährung völlig entkräftet zusammenbrach. Eine SS-Wache im Lager brachte ihn daraufhin als Lagerverwalter im Magazin unter. Auf diese Weise konnte er sich etwas erholen. Wie viele Zeugen Jehovas schmuggelte und vervielfältigte Heinrich im KZ biblische Aufsätze, die er an seine Mitgefangenen verteilte. Seine Tochter Christa, die bei seiner Verhaftung eineinhalb Jahre alt war, sah ihren Vater erst sieben Jahre später wieder. Ein Bekannter der Familie entwickelte ein Foto von ihr als Postkarte. So konnte Heinrich ein Bild seiner Tochter erhalten. Das muss ihm viel bedeutet haben, denn diese Postkarte brachte er bei seiner Freilassung mit nach Hause. Noch heute erinnert sich Christa an den Tag im Mai 1945, an dem ihr Vater Heinrich nach seiner Befreiung in Benterode ankam: „Die Amerikaner spendierten uns einen Eimer Pancake-Teig und Vanilleeis, damit wir mit der Familie und Freunden seine Heimkehr feiern konnten.“ Heinrich Mühlhausen war trotz der Last seiner traumatischen Erlebnisse als positiver Mensch bekannt, der keine Verbitterung verspürte. Er starb am 27. Oktober 1974.