Der Kulturbund Deutscher Juden
Seit dem Beginn ihrer Herrschaft 1933 grenzten die Nationalsozialisten Jüdinnen und Juden aus dem staatlichen Kulturbetrieb aus.
Auf der lokalen Ebene entfachte ihre Kasseler Zeitung, die Hessische Volkswacht, bereits seit Mitte Februar eine propagandistische Hetze gegen das Staatstheater unter der Parole: „Kein Jude darf am Staatstheater bleiben.“ Roland Freisler selbst, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, schrieb hier in besonders markanter und ultimativer Form: „Immer wieder haben wir während der Kämpfe der letzten Jahre darauf hingewiesen, in welch unerhörter Weise die deutsche Kunst durch ausländischen, rassefremden Einfluss zerstört wird.“ Er forderte schließlich im Hinblick auf das Staatstheater, „dass ausnahmslos jeder Platz, auf dem sich jetzt rassefremde Bühnenkünstler befinden, frei gemacht wird für hungernde deutsche Bühnenkünstler“ (Hessische Volkswacht, 15.2.33). Das führte bereits kurz danach zu den Entlassungen des Chefdramaturgen Franz Mirauer, des Kapellmeisters Werner Seelig-Bass, der Sängerin Ljuba Senderowna und des Sängers Santo Hornblass.
Die jüdische Reaktion bereits im Sommer 1933 war die Gründung einer eigenen Organisation der Selbsthilfe, des Kulturbundes Deutscher Juden. Dessen Bedeutung wird in den Lebenserinnerungen von Lisel Kahn und Frieda Sichel deutlich, die beide im Vorderen Westen lebten.
Lisel Kahn schreibt:
„Ich habe vor mir das deutsche Philo-Lexikon - wahrscheinlich die letzte Auflage, die noch herausgegeben werden konnte, copyright 1934, gedruckt 1935. Darin sind etwa 90 deutsch-jüdische Organisationen verschiedenster Art aufgeführt. Viele von diesen wurden damals schon ‚abgewickelt‘ (oder waren es schon) oder starben eines (un)natürlichen Todes, während andere an Bedeutung ge-wannen. Die Juden waren schon damals aus den meisten deutschen Organisationen ausgeschlossen worden und Selbsthilfe durch Vereinigung und Zusammenhalt konnte noch einige Zeit einen gewissen inneren Halt geben. Unter anderem im ,,Kulturbund Deutscher Juden. (…) Er spielte eine große Rolle. Als man als Jude nicht mehr ins Theater oder zum Konzert gehen und auch keine Vorträge oder andere kulturelle oder gesellschaftliche Arrangements besuchen durfte, wurden kulturelle Veranstaltungen mit jüdischen Gästen - oft berühmten - arrangiert. Prominente, die also nicht mehr auftreten durften und auf jüdische Auditorien angewiesen waren. Ich kann nur davon sprechen, was in dieser Hinsicht ,,zu meiner Zeit” geschah, d. h. vor April 1934. (…) Als ich noch in Deutschland war, gingen wir zu allen diesen Veranstaltungen, jung und alt. Selbstverständlich. An einem dieser Kulturabende sah und hörte ich Martin Buber reden. Ich verstand nicht viel davon, Martin Bubers Philosophie war damals noch zu hoch für mich. Was uns Martin Buber hauptsächlich nahe brachte, war die Übersetzung der Fünf Bücher Moses, die er zusammen mit Franz Rosenzweig herausgab. (Franz Rosenzweig -geb. in Kassel - hatte in Kassel gewohnt und gewirkt - einer der größten jüdischen Philosophen der damaligen Zeit.“
Frieda Sichel schreibt:
„Der Plan der Nazis, Juden so zu demütigen, dass sie jede Widerstandkraft verloren, schlug fehl. Sie vom allgemeinen kulturellen und geistigen Leben auszuschließen, führte zu einer Stärkung der Kultur innerhalb der jüdischen Gemeinden. So wurden überall in Deutschland Vertretungen des Kulturbundes gegründet. Hier boten hochqualifizierte jüdische Dozenten Kurse an, die die Menschen mitrissen und ihnen mental Auftrieb gaben."
In Kassel organisierte der Kulturbund seit spätestens 1934 ein reges Programm. Eine bedeutende Rolle spielte dabei Emmy Rubensohn, die für die musikalischen Angebote zuständig war und diese organisierte. Im Leo Baeck Institute in New York findet sich heute eine Sammlung zu Aktivitäten des Kasseler Kulturbundes in den Jahren 1934 bis 1937, die mit großer Sicherheit von ihr stammt, da sie auf die musikalischen Veranstaltungen konzentriert ist und auch Persönliches zu Emmy Rubensohn enthält. Sie erlaubt uns einen Einblick in das kulturelle Leben der Kasseler Gemeinde in der Zeit des Nationalsozialismus und enthält unter anderem Artikel aus der Jüdischen Wochenzeitung ab 1933, die in Kassel selbst heute verschollen ist, so dass die Sammlung auch unter diesem Gesichtspunkt von großer Bedeutung ist.
Eine wesentliche Funktion des Kulturbundes bestand darin, entlassenen Künstlerinnen und Künstlern eine Auftrittsmöglichkeit und damit einen Verdienst zu ermöglichen. Dazu gründete man unter anderem ein eigenes Orchester oder veranstaltete Kompositionswettbewerbe.
Während die 1933 entlassenen Santo Hornblass und Ljuba Senderowna bereits 1933 emigrieren konnten, gehörten der Dramaturg Fr. Franz Mirow (Mirauer) und der Kapellmeister Werner Seelig-Bass zu denjenigen, die beim Kulturbund eine Anstellung fanden. Der Instrumentalist, Kapellmeister und Komponist Seelig-Bass war vor seiner Emigration im Februar 1937 noch einmal bei einem „Tanzabend“ des Kulturbundes in Kassel als Pianist aufgetreten und auch der 1933 gleichfalls entlassene Dramaturg Franz Mirauer kehrte als „Erzähler“ in der Aufführung der Oper „Der Barbier von Bagdad“ im Januar 1937 noch einmal nach Kassel zurück. Er sollte in Auschwitz ermordet werden. Seelig-Bass machte in den USA als Warner (S.) Bass eine bemerkenswerte Karriere als Dirigent renommierter Orchester. Bereits während des Krieges und vor allem danach führten ihn Konzertreisen in die ganze Welt.