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Kurt Finkenstein

Ein Leben zwischen Kunst, Literatur und Politik.

Begründer des ersten Zahntechnischen Labors in der Stadt.

"Ich bin zu brechen, aber nicht zu biegen."

Wohnte von 1920 bis 1922 in der Hohenzollernstraße 70 (Friedrich-Ebert-Straße)

In Straßburg groß geworden

Kurt Finkenstein wurde am 27. März 1893 in Straßburg geboren. Seine Mutter Auguste Funkenstein war am 13. November 1853 als Tochter des Schneiders und Werkführers Abraham Funkenstein und dessen Ehefrau, Nathalie Funkenstein, geb. Cohn, in Danzig geboren. Die Eltern hatten im Jahre 1849 in Danzig geheiratet und waren jüdischen Glaubens. Auguste Funkenstein war zunächst mit dem Kaufmann Joseph Julius Blumenthal in Berlin verheiratet gewesen. Die Ehe, über die wir nichts Näheres wissen, war am 21. Juni 1889 geschieden worden. Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen und war nach Straßburg gezogen, wo sie allem Anschein nach in bescheidenen Verhältnissen lebte.

Vom Vater Kurts wissen wir nur, dass er in jener Zeit in Metz oder in Straßburg deutscher Offizier war. Noch vor der Geburt des Sohnes sei er verstorben oder verschollen. Es ist denkbar, aber nicht erwiesen, dass der Vater den Namen Finkenstein getragen hat.

Kurt war ein guter Schüler und hatte – nicht mangelnder Leistungen wegen, sondern mit Blick auf eine von der Mutter aus Sicherheitsüberlegungen für ihn angestrebte frühe wirtschaftliche Selbständigkeit – nur die sechs Realschulklassen besucht. Er war evangelisch getauft und verließ die Schule mit der Konfirmation. Im Anschluss an die Schulzeit begann er eine vierjährige Lehrzeit als Zahntechniker bei Prof. Dr. Ernst Jessen in Straßburg, dem späteren Begründer der Schulzahnpflege in Deutschland.

In Metz berufliche Erfahrungen

Im Jahre 1911 zog Auguste Funkenstein mit ihrem Sohn nach Metz, das zu jener Zeit Hauptstadt des Regierungsbezirks Lothringen im seit 1871 dem deutschen Kaiserreich eingeglie­derten Reichsland Elsaß-Lothringen war. Das Motiv für den Umzug der beiden nach Metz ist uns unbekannt. Er war inzwischen 18 Jahre alt geworden, hatte die Lehrzeit beendet und in Metz eine Anstellung als Zahntechniker bei einem Zahnarzt gefun­den, bei dem er bis zum Kriegsausbruch blieb. Er wohnte mit seiner Mutter in der Danzigerstraße 1; noch im Jahr 1911 zogen sie nach Le Sablon, eine Vorstadtgemeinde, die im Jahr 1914 in die Stadt Metz eingemeindet wurde; dort mieteten sie sich in der Herz Nikolasstraße 8 ein.

Seit dieser Zeit in Metz führten Mutter und Sohn den Nachnamen Finkenstein. Wie es zu dieser Namensänderung kam, konnten wir nicht ermitteln.

Im Weltkrieg 1914-1918: Erwachende Kriegsgegnerschaft

Finkenstein erhielt im Jahr 1913 die Berechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst. Statt der allgemein dreijährigen Wehrpflicht bedeutete dies nur ein Jahr Dienst. Die Freiwilligen mussten sich selbst einkleiden, unterbringen und verpflegen, konnten die Waffengattung selbst wählen und wurden zu Reserveoffizieren ausgebildet. Die “wissenschaftli­che Befähigung” wurde in der Regel durch das Abiturzeugnis nachgewiesen. Diese Berechtigung, die für “junge Leute von Bildung” vorgesehen war, stand ihm von seiner Realschulbildung her nicht zu. Finkenstein erhielt das Privileg auf Grund des sogenannten Kunstparagraphen, d.h. es gab für “kunstverständige oder mecha­nische Arbeiter, die Hervorragendes leisten”, die Möglichkeit, sie “vom Nachweis der wissen­schaftlichen Befähigung zu entbinden”. Tatsächlich bezeichneten sich die späteren Zahntechniker noch um 1900 als “Zahnkünstler”, für ihre Berufsausbildung war eine “Veranlagung zu feineren künstlerisch-technischen Handfertigkeiten” Voraussetzung. Als der Krieg im August 1914 ausbrach, entschied sich Finkenstein für die Artillerie und meldete sich freiwillig zum 8. Rheinischen Fußartillerie-Regiment mit dem Standort in Metz. Er erkrankte während der Ausbildung und wurde deshalb im September 1914 entlassen. Im März 1915 wurde er wieder eingezogen und dem Lazarettdienst zugeteilt, zuerst in Breslau, später in Mazedonien. In jener Breslauer Zeit lernte er vermutlich Elfriede Tautz, seine spätere Frau, kennen.

Der Schriftsteller Herbert Lewandowski teilte im Jahre 1952 mit, wie er und Finkenstein sich im Jahre 1916 in einem Café in Monastir (türkischer Name für heute: Bitolj, Mazedonien) kennenlernten:

“Und zwischen all den Orientalen sitzen auch ein paar deutsche Soldaten, dort ein außergewöhn­lich kräftiger, hochgewachsener Kanonier und neben ihm ein mittelgroßer, schmächtiger Trainsol­dat. [...] Kanonier Finkenstein zitiert einen Vers von René Schickele: ‘Herrscher bleibt das Tier über die Welt,/ Bis nicht kampflos Mensch zu Mensch sich stellt’. [...] Zwei bisher unverstandene Pazifisten haben sich hier in Monastir gefunden und gießen die ganze Schale ihres glühenden Zorns und Hasses gegen den Krieg aus, ohne sich durch etliche Eisportionen auch geistig etwas abkühlen zu lassen. Finkenstein berichtet, dass sein Freund Schickele [...] seine pazifistische Politik jetzt von der Schweiz aus mit der Zeitschrift ‘Die Weißen Blätter’ fortsetzt. ‘Pazifistische Zeitschrift?’ fragt sein Kamerad erstaunt, ‘gibt es denn so etwas?’ ‘In der Schweiz in Massen. Dort erscheint auch die Zeitschrift Demain. Aber auch in Deutschland haben wir eine solche Zeitschrift, Pfemferts Aktion. Ich bringe Ihnen nächstens ein paar Hefte mit ... Und die beiden Freunde überlegen, wie man dem abscheulichen Krieg ein Ende machen könnte. ‘Man sollte Tolstojs billige Broschüre Besinnet Euch an alle Frontsoldaten schicken’, schlägt Finkenstein vor. ‘Das würde dem Kriege sofort ein Ende machen.’ Sein Gefährte ist trotz seiner zwanzig Jahre etwas skeptisch, aber Finkensteins Worte tönen ihm wie Musik, seine profunde Kenntnis der französischen Literatur setzt ihn in Erstaunen, seine gefestigte Weltanschauung lockt sein anlehnungsbedürftiges Gemüt. ‚Wir wollen immer Freunde sein, immer treu zusammenhalten‘, sagt er und streckt Finkenstein die Hand über den Tisch.”

Die deutsche Staatsbürgerschaft

Nach dem Ende des Krieges verließ Finkenstein seine elsässische Heimat und zog nach Deutschland. Diesen Entschluss sollte er später bitter bereuen, denn unter bestimmten Voraussetzungen hätte er sich auch um die französische Staatsbürgerschaft bewerben, in jedem Falle im Elsass, das nun wieder französisches Gebiet wurde, bleiben können; er ging im Jahre 1918 zunächst nach Breslau, vermutlich seiner späteren Frau wegen, die in Schlesien zu Hause war. Elfriede Tautz entstammte einer katholischen Familie aus Bad Reinerz. Ihr Vater war Inhaber einer Pension. Beide heirateten im Februar 1919 in Bad Reinerz und zogen dann nach Leipzig, wo Finkenstein bereits seit Dezember 1918 eine Anstellung als Zahntechniker bei einem Dentisten gefunden hatte. Dort wurde am 3. August 1919 ihr erstes Kind Renatus Peter Finkenstein geboren.

Erfolgreicher Zahntechniker

Am 1. Oktober 1919 zog die Familie, zusammen mit der Mutter Auguste Funkenstein, nach Kassel, zunächst in die Wilhelmshöher Allee 172 (II. Stock), im Januar 1920 in die Hohenzollernstraße 70 (heute: Friedrich-Ebert-Straße) und im Januar 1922 in die Kleine Rosenstraße 2. Dort eröffnete er “auf Veranlassung des Reichs­verbandes der Deutschen Zahnärzte” das erste Zahntechnische Labor in der Stadt.

Zu Beginn der 20er Jahre arbeitete das Labor allen Berichten zufolge sehr erfolgreich, so dass die hohen Investitionen für die teuren Großgeräte sich bezahlt machten. Von einigen Zeitgenossen wurde er geradezu als ‘Großverdiener’ angesehen, was jedoch der Wirklichkeit nicht entsprochen haben dürfte. Vielleicht entstand dieser Eindruck dadurch, dass er eine große und teure Wohnung mietete und zeitweise einen Mercedes fuhr. Offenbar setzte er in jener Zeit die guten Einnahmen des Labors für einen aufwändigen Lebensstil sofort um.

Finkenstein galt in seinem Fachgebiet als überdurchschnittlich; von mehreren Zahnärzten wurde besonders seine orthopädische Kunst der Kieferschienung (Kieferregulierungsapparate und Kieferbruchschienen), die damals technisch zu dem Schwierigsten gehörte, was es auf dem Gebiet der Zahntechnik gab, als herausragend hervorgehoben. So wurde er z.B. im Jahre 1932 von dem Zahnarzt Dr. Plüer für den Patienten Oswald Freisler, der wie sein später berüchtigter Bruder Roland Freisler ebenfalls in jener Zeit in Kassel als Rechtsanwalt lebte, nach dessen Kieferbruch hinzugezogen.

In Kassel wurde am 10. August 1920 als zweites Kind Erich Martin Finkenstein geboren.

Im Dunkeln liegt die Geschichte Hans-Sylvester Finkensteins, der als drittes Kind am 10. Januar 1923 in Kassel geboren wurde. ”Der dritte Sohn, der geboren wurde, war blind. Finkenstein erwachte wie aus einem furchtbaren Traum” (Herbert Lewandowski). Eine Zeitzeugin sprach davon, dass das Kind nicht blind, sondern geistig behindert geboren sei. Fest steht, dass Hans-Sylvester am 16. November 1927, in seinem fünften Lebensjahr, in ein Heim für geistig behinder­te Menschen, das St. Johannesstift in Ershausen (früher: Kreis Heiligenstadt), gegeben wurde und dort am 8. März 1928 an Bronchitis und Herzschwäche verstarb. Dieses dritte Kind hat Kurt Finkenstein mit keinem Wort mehr in seinen späteren Briefen erwähnt. Bei seiner Vernehmung vor dem Untersuchungsrichter im Mai 1937 findet sich ein indirekter Bezug im Zusammen­hang mit seiner Beziehung zu Hermann Schafft: “Pfarrer Schafft hat mich gelegentlich und zwar aus Anlass der Erkrankung meines inzwischen verstorbenen Kindes besucht.”

Am 18. März 1925 starb im Alter von 71 Jahren seine Mutter in Kassel; in einem seiner späten Gedichte aus dem Zuchthaus Wehlheiden gedenkt er ihrer – dankbar und von Herzen zugewandt.

Kultur und Politik

In Kassel schloss sich Finkenstein wie zuvor in Leipzig der USPD an, mit deren linkem Flügel er nach dem Hallenser Parteitag im Oktober 1920 in die Kommunistische Partei Deutsch­lands eintrat. Er tat diesen Schritt aus einem sozialen Gerechtigkeitsempfinden und aus politischem Engagement, besonderes aus seiner Kriegsgegnerschaft heraus. Er wurde kein Parteikommunist im Sinne des bedingungslosen Vollzugs von Entscheidungen führender Funktionäre – seine geistige Freiheit und Unabhängigkeit war ihm wichtig. 1925 trat er aus der Kommunistischen Partei wieder aus, “weil er nicht damit einverstanden war, dass er Thälmann [zum Reichspräsidenten; d. Vf.] hätte wählen sollen”. Im September 1932 wurde er erneut Mitglied. Der Schritt war wohl demselben idealisti­schen Motiv und der verzweifelten Sicht, der zufolge gegen die drohende nationalsozialistische Machtübernahme nur noch die KPD als entschlossene organisierte Gegenmacht angesehen wurde, entsprungen. Darüber hinaus war er ab 1932 Mitglied in der von Franz Neubauer (KPD, Leiter der Roten Hilfe in Kassel) und Adolf Zucker gegründeten “Gesellschaft zur Organisierung sozialwissenschaftlicher Vorträge” in Kassel, über die sich wenig ermitteln ließ.

Finkensteins Gastfreundschaft war sprichwörtlich. “Er war von hinreißender Gastlichkeit wie ein alter Tahitaner. Bei ihm war man immer willkommen” (H. Lewandowski). Die Wohnung in der Kleinen Rosenstraße 2, wo die Finkensteins bis Anfang der 30er Jahre lebten, war ein ‚offenes Haus‘, in dem namhafte Künstler und Schriftsteller, nicht nur aus Kassel, oft zu Besuch kamen. Ein Ort des Gesprächs über Kultur, Gesellschaft und Politik, auch der Diskussionen und der Vorträge, an denen gelegentlich auch Oberstufenschüler teilnahmen. An solchen Abenden bei Finkenstein nahmen neben den bereits erwähnten Freunden auch andere interessierte jüngere Menschen teil, die der politischen Linken nahestanden. ”Man konnte bei Finkenstein an einem Abend mehr lernen als in einem Vierteljahr in der Schule”, teilte Friedrich Nagel mit. Es war für ihn ein Erlebnis, einen Abend als Schüler bei Finkensteins zu verbringen, neben den ausgiebigen und anregenden Diskussionen mit vorwiegend literarisch-künstlerischen Inhalten konnte man dort auch die interessantesten Persönlichkeiten (er erwähnte z.B. Franz Jung, den “letzten Seeräuber Europas”) kennenlernen. Friedrich Nagel erinnert sich vor allem der fesselnden Ausstrahlung und Freundlichkeit Finkensteins, an sein vielseitiges Wissen, seine Gewandtheit und die Gabe, Gespräche interessant zu gestalten. An solchen Abenden ließ er die Arbeit liegen und konzentrierte sich ganz auf die Gespräche mit seinen Gästen.

Die Wohnung bestand aus etwa acht bis neun Zimmern. Das Labor befand sich in der Wohnung. “Finkenstein galt wegen seiner vielseitigen geistigen und künstlerischen Interessen in Kassel als ein gewisses geistiges Zentrum” (Friedrich Herbordt). Finkensteins Schallplattensammlung, seine große Bibliothek, in der alle Gebiete der Geisteswissenschaft vertreten waren, und seine Kunst­werke wurden von vielen Teilnehmern solcher Abende in seiner Wohnung hervorgehoben.

Um nur einige auswärtige Freunde zu nennen, die in den zwanziger Jahren die Verbindung zu ihm nach Kassel hatten bzw. in diesem Zusammenhang genannt wurden:Friedrich Domin, Ernst Glaeser, Max Hermann-Neiße, Franz Jung, Eugen Lewin-Dorsch, Hans Reimann, René Schickele, Arthur Seehof, Viktor Wendel und Erich Weinert. Reimann und Weinert hatte er in Leipzig kennengelernt, mit Hermann-Neiße verband ihn “enge Freundschaft”. Max Hermann-Neiße, der ihn in Kassel mehrfach besuchte, zählte Finkenstein „zu den ganz wenigen deutschen ‚Dichtern und Denkern‘, die am unheilvollen 1. August 1914 nicht in einen Taumel entmenschten Teuto­nentums fielen”. In Kassel stand er in freundschaftlicher Verbindung mit den in Politik und Kultur engagierten Ingolf-Birger Askevold, Traugott Eschke, Friedrich Herbordt, Walter Ladengast, August Riekel, Hermann Schafft, Alfred Vocke und anderen. Kurt “liebte den Wein, das gute Essen, die Behaglichkeit, die solide Arbeit, die schönen Gedich­te” (Alfred Vocke).

Käte Westhoff

Im April 1930 kam es zur Trennung der Ehepartner und im Juni 1934 zur gerichtlich festgestellten Scheidung. Elfriede Finkenstein verließ im Jahr 1930 mit den beiden Söhnen Peter und Martin die gemeinsame Wohnung in Kassel und ging zurück zu ihren Eltern nach Oberschreiberhau in Schlesien. Die Gründe und Anlässe für diese Trennung konnten nicht ermittelt werden. Aus den späteren Briefen Finkensteins geht hervor, dass er sich schwere Selbstvorwürfe machte. In dem Gedicht, das er nach der Nachricht vom Tod seiner ersten Frau im Jahre 1939 verfasste (“An eine Tote. Elegie und Bitte”), schrieb er: “Bist Du unversöhnt davongegangen?/ Oder ob Du meine Schuld verziehen hast?” Und: “Schuldig bin doch nur ich selbst gewesen/ Launenhaft verriet ich unser Glück”. Vor Gericht wurde die Ehe “aus Schuld des Angeklagten” geschieden. Anwaltlich hatte er sich durch Dr. Erich Lewinski vertreten lassen, einen politisch engagierten Kasseler Rechts­anwalt, der dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), einer linkssozialdemokratischen Gruppe um den Göttinger Philosophen Leonard Nelson, angehörte.

Seine materielle Situation hatte sich – vermutlich seit etwa 1930 – verschlechtert; dies geht aus einigen indirekt mitgeteilten Tatsachen hervor. In einem späteren Brief schreibt er, dass er gegenüber seiner geschiedenen Frau beträchtliche Schulden habe; hierbei kann es sich um Verpflichtungen zu Unterhaltszahlungen für Frau und Kinder gehandelt haben. Die allgemeine Wirtschaftskrise ab 1929 und – damit verbunden – die zunehmende Verarmung vieler Menschen mag die Einnahmen in seiner Branche ebenfalls negativ beeinflusst haben. Anscheinend hatte er seinen Betrieb nicht rechtzeitig auf die veränderte wirtschaftliche Lage umgestellt; vielleicht spielten auch Vorbehalte gegen seine politische Auffassung beim Rückgang der Geschäfte mit. Finkens­tein wollte bis zuletzt Entlassungen vermeiden. Die Verhältnisse zwangen ihn jedoch im Jahre 1932 zur Verkleinerung des Geschäftsbetriebes. Er konnte nur noch einen Angestellten und Lehrlinge beschäftigen und musste das Labor in der Kleinen Rosenstraße aufgeben. Er richtete in der Seidlerstraße 2 das reduzierte Labor ein; privat mietete er sich eine erheblich kleinere Wohnung in der Karthäuserstraße 5 1/2 (Hinterhaus, 2. Stock). Diese Wohnung bestand aus fünf Zimmern und Küche, von denen er zwei mit Küche an seinen Angestellten vermietete. Auch ein weiteres Zimmer hatte er vermietet. Er richtete sich selbst ein Zimmer als Küche ein.

Seine Großzügigkeit und vielleicht auch Leichtfertigkeit beim Geldausgeben (insbesondere für Literatur und Schallplatten, für die Bewirtung der Freunde), von denen viele Zeitzeugen überein­stimmend berichten, werden seine materielle Situation verschärft haben. Tatsache ist, dass der Betrieb im Jahre 1933 verschuldet war, wenn auch nicht in einer Existenz bedrohenden Weise.

Ab dem Jahre 1930 lebte er mit Käte Westhoff gemeinsam, zunächst in der Kleinen Rosenstraße 2, später dann in der Karthäuserstraße 5 1/2. Er hatte sie im Jahre 1926 kennengelernt, wo und unter welchen Umständen, entzieht sich unserer Kenntnis. Sie war Anfang 20 und er Anfang 30. Sie war ausgebildete Stenotypistin und als solche beim Oberlandesgericht Kassel angestellt, bis ihr von dort im Jahre 1932 wegen ihres “Verhält­nisses mit dem Juden Kurt Finkenstein fristlos gekündigt” wurde. War die freie Lebensgemeinschaft, war seine politische Radikalität, seine jüdische Herkunft oder alles zusammen hier der Stein des Anstoßes? Käte Westhoff arbeitete daraufhin zunächst als Kontoristin im Zahntechnischen Laboratorium Finkensteins, später führte sie ihm den Haushalt.

Konzentrationslager Breitenau

Kurt Finkenstein wurde am 26. April 1933 aus politischen Gründen (Schutzhaft) verhaftet; zu diesem frühen Zeitpunkt wurden im Kasseler Raum ganz überwiegend Kommunisten und der KPD oder deren Organisationen nahestehende Personen mit Schutzhaft belegt. Der konkrete Schutzhaftbefehl gegen Finkenstein war nicht zu ermitteln. Es ist anzunehmen, dass er als Mitglied der Kommunistischen Partei und als ‘Kulturbolschewist’ (NS-Jargon) – d.h. als jemand, der im kulturellen Bereich, sei es in Literatur, Theater, Bildender Kunst, durch öffentliche Vorträge o.ä. die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft diskutierte, über geistige Unabhängigkeit verfügte, Pazifist, Atheist oder Sozialist war – ins Visier der politischen Geheimpolizei geraten war. Ein Zeitzeuge erwähnt eine Sitzung der Bezirksleitung der KPD kurz nach dem Reichstagsbrand in der Finkenstein‘schen Wohnung. “Der hatte ein Zahn­technisches Labor und war Halbjude und war ein bedeutender Mann und Intellektueller. Und da fand eine BL-Sitzung statt, wir haben es sehr kurz gemacht und waren gerade auseinander, da war die Polizei da!” (Karl Wack). Auch Herbert Lewandowski schrieb, er habe “geflüchtete Kommunisten beherbergt”. Die Anklageschrift gegen ihn nennt als Anlass für die Schutzhaft im KZ Breitenau, er habe “auf Veranlassung des kommunistischen Funktionärs [Hans] Siebert” die Frau eines anderen flüchtenden Funktionärs, diesen selbst und den Funktionär Franz Neubauer in seiner Wohnung aufgenommen. Dieser Hinweis ist auch deshalb interessant, weil Hans Siebert für einen anderen Intellektuellen, der in jener Zeit in Kassel im Regierungspräsidium als Referendar tätig war, eine wichtige Rolle spielte: Adam von Trott zu Solz, der gegen das NS-Regime prakti­schen Widerstand leistete und deshalb am 23. August 1944 von diesem Regime ermordet wurde, hatte sich für den inhaftierten Hans Siebert mehrfach eingesetzt.

Mehr als sieben Wochen wurde Finkenstein in Polizeihaft im Polizeipräsidium im Königstor festgehalten, mit hoher Wahrscheinlichkeit dort auch verhört. Wieder fällt die Parallele zu den verhafteten kommunistischen Funktionsträgern auf, da auch diese bis Mitte Juni – das Konzen­trationslager Breitenau wurde erst am 16. Juni 1933 eingerichtet – in Polizeihaft, zum Teil auch im Gefängnis Kassel-Wehlheiden, festgehalten wurden. Finkenstein gehörte zusammen mit 27 anderen politischen Gegnern des aufziehenden NS-Regimes (26 Kommunisten und zwei Sozialdemokraten) zu den ersten Schutzhaftgefangenen des Konzen­trationslager Breitenau in Guxhagen im Landkreis Melsungen. Dieses frühe KZ gründete der Kasseler Polizeipräsident und Gestapochef Fritz von Pfeffer für Schutzhaftgefangene im gesamten Regie­rungsbezirk Kassel.

Finkenstein wurde dort bis zum 8. August 1933 gefangen gehalten. Über seine Zeit im von SA-Hilfspolizisten regierten KZ Breitenau ist wenig bekannt. Zwei Mitgefangene berichteten, dass er “besonders übel behandelt” worden sei: Zum einen habe er – als besondere Schikane – in den Steinbrüchen “statt bergauf bergab zu hauen” gehabt, zum andern sei er bei der Feldarbeit mit dem Knüppel geschlagen worden.

Sicher ist, dass er in dieser ersten Schutzhaftzeit regional führende Kommunisten kennengelernt bzw. dass sich der Kontakt zu den ihm schon bekannten Kommunisten verstärkt hat. Zur selben Zeit wie er waren z.B. die Funktionäre Ernst Lohagen, Ernst Schädler, Paul Joerg, Hans Schramm und Karl Vogel im KZ Breitenau.

Finkenstein war somit im Jahr 1933 einschließlich der Zeit der Polizeihaft, die unmittelbar vor­angegangen war, unrechtmäßig 14 Wochen als Schutzhaftgefangener inhaftiert. Man kann sich leicht vorstellen, welch hohen wirtschaftlichen Verlust diese 14 Wochen für einen selbständigen Betriebsinhaber und Geschäftsführer bedeutet haben. Eine Entschädigung dafür gab es nicht.

Zwei Jahre in Freiheit

Über die Zeit zwischen August 1933, seiner Entlassung aus dem KZ Breitenau, und Juli 1935, seiner erneuten Verhaftung, die zur gerichtlichen “Verurteilung” und langjährigen Zuchthausstrafe führen sollte, wissen wir wenig. In den Briefen aus der Haftzeit wurden rückblickend nur Streiflichter gesetzt. So erinnerte er sich der glücklichen Tage, in denen er mit Käte Reisen und Wanderungen unter­nommen hatte. “Meine liebste Beschäftigung”, schrieb er aus dem Zuchthaus, “ist natürlich das Zurückwandern in die Vergangenheit und fast täglich gehe ich einen der vielen Wege wieder, die ich mit Dir in der schönsten Zeit meines Lebens gehen durfte: Marburg und Heidelberg, Frankfurt und Hannover, dazu die vielen kleinen Nester, in denen wir so frohe unbeschwerte Stunden leben durften, leben vor meinen geistigen Augen auf. Gudensberg, Münden, Karlshafen, Wildungen und alle anderen ...”

Seinen Betrieb, das Zahntechnische Laboratorium in der Seidlerstraße, führte er bis 1935 fort – und zwar anscheinend nicht erfolglos, schrieb er doch rückblickend, dass er seine nicht unerheblichen Schulden, z.B. gegenüber einer Zahnwaren-Firma, bis auf einen ganz geringen Betrag habe tilgen können. Im Jahre 1934 kam sein alter Freund Herbert Lewandowski nach Kassel und wohnte zurückgezo­gen in Wilhelmshöhe:

“Finkenstein kam mit Frau Käte herauf. Ich versuchte, ihn über seine Konzentrationslagerzeit auszufragen, doch sein Mund blieb geschlossen. Er sagte nur: ‚Geschlagen haben sie mich nicht!‘ Wieder sprach man vom Auswandern, aber der arme Finkenstein wusste nicht wohin. Er hatte ja zwei Frauen, drei Kinder, musste helfen. Es gab unbezahlte Schulden. Noch immer war er so leichtsinnig, ab und zu ein schönes Bild, ein kostbares Buch zu kaufen oder irgendeinen armen Künstler einzuladen. Und so lief er – fast sehenden Auges – dem Verhängnis in die Arme.”

In einer späteren gerichtlichen Vernehmung äußerte er im Zusammenhang mit dem Vorwurf, ihm sei nach 1918 das Angebot gemacht worden, als Zahnarzt in den französischen Militärdienst ein­zutreten, sich konkret zu seinen Auswanderungsplänen und den entsprechenden Vorbereitungen: “Es trat für mich, wie ich bereits erörtert habe, angesichts der für mich immer schwieri­ger werdenden Lage in Deutschland natürlich die Frage heran, mich im Auslande nach einer Stellung umzusehen. Mir lag als geborener Elsässer, der in der Jugend auch vielfach Frankreich besucht hatte, ein Unterkommen in einem der Weststaaten am nächsten. Ich habe zwar auch versucht durch Prof. Kantorowicz, der nach der Machtübernahme nach Ankara ging und dort eine große Zahnklinik an der türkischen Universität gründete, in der Türkei ein Unterkommen zu finden. Das zerschlug sich aber, weil Frau Prof. Vocke, frühere Bekannte aus Kassel, die mir persönlich und künstlerisch nahe gestanden hatte, und die ich um eine Vermittlung bei Kantoro­wicz [gebeten hatte], sich mir verleugnen ließ. [...] Nach Russland zu gehen, hätte ich erst in letzter Linie in Erwägung gezogen, ich habe zwar eine solche Möglichkeit mit Frl. Westhoff erörtert, jedoch hat sie niemals greifbare Formen angenommen. Jedenfalls habe ich den Schwer­punkt für eine eventuelle Auswanderung auf Westeuropa gelegt.”

Es war allerdings auch die Zeit, in der seine Gastfreundschaft von kommunistischen Zirkeln um Ernst Lohagen in einer Weise in Anspruch genommen wurde, die ihn gefährdete. Den politisch erfahrenen und geschulten Parteifunktionären musste doch klar sein, dass er als einer der linken Intellektuellen nach seiner KZ-Haft weiter von der politischen Polizei beobachtet wurde. Ihnen konnte nicht entgangen sein, dass Finkenstein ein weltoffener Mensch war, der anderen mit einem Vertrauensvorschuss begegnete, und dass sie es hier nicht mit einem routinierten kommunistischen Untergrund- und Widerstandskämpfer zu tun hatten. Gleichwohl haben Ernst Lohagen und andere Kommunisten immer wieder seine Wohnung für Parteiberatungen genutzt und ihn so – ob aus Leichtfertigkeit oder aus Gleichgültigkeit – ganz erheblich gefährdet. Er freilich war seinerseits von einem großen Vertrauen sowohl gegenüber diesen politischen Freunden als auch gegenüber dem Staat, den er noch lange nach seiner Pervertierung durch die Nazis für einen Rechtsstaat hielt, gefangen, so dass er die auf ihn lauernden Gefahren nicht rechtzeitig erkannt hatte. Nicht einmal die Inhaftierung im KZ Breitenau sei ihm Warnung genug gewesen, urteilten später Freunde von ihm.

Erneute Verhaftung 1935

Kurt Finkenstein wurde, vermutlich für ihn vollkommen überraschend, gemeinsam mit 17 anderen Männern und Frauen, darunter die kommunistischen Funktionäre Ernst Lohagen, Paula Lohagen und Traugott Eschke, – auch Käte Westhoff befand sich unter den Festgenommenen – in Kassel am 23. Juli 1935 im Rahmen einer sogenannten ”neuen umfassenden Aktion gegen den illegalen Kommunismus” verhaftet. Von diesen 18 Personen behauptete die Gestapo Kassel, dass sie „im dringenden Verdacht stehen, am Neuaufbau der K.P.D. beteiligt zu sein”. Finkenstein wurde vorgehalten, dass er seine Wohnung zu solchen Treffen zur Verfügung gestellt habe. Die Gestapo konfiszierte Finkensteins Bibliothek. Rechtsanwalt Lothar Wolf und die Inhaberin einer Kasseler Buchhandlung – beide kannten die Finkens­tein’sche Bibliothek aus eigener Anschauung – berechneten mit Hilfe einer zeichnerischen Rekonstruktion der Regale die Anzahl der Bücher auf mindestens 5000. “Ich kenne die Bibliothek des Herrn Finkens­tein aus eigener Anschauung sehr gut. Es handelt es sich um die in meinem Bekanntenkreis größte Privatbibliothek. Rückschauend möchte ich den Bestand auf ca. 4000 bis 5000 Bände schätzen. Die Bibliothek umfasste sehr wertvolle Erstdrucke und auch andere bibliophile Kostbarkeiten” (Liselotte Römer, geb. Wiegand). Außerdem verschwanden seine große Schallplattensammlung, zahlreiche Kunstmappen, Bilder, Zeichnungen und Plastiken (Werke von Ernst Barlach, August Anhalt, Vincent van Gogh, George Grosz, Karl Schmidt-Rottluff, Oskar Kokoschka, Frans Masereel wurden von Freunden genannt) und tauchten nie mehr auf. Im Rahmen der Verhaftung Finkensteins hatte die Gestapo Ende Juli 1935 bereits 550 Bücher konfisziert. Der Hauseigentümer der Wohnung in der Karthäuserstraße Albert Steffens berief sich nach der Verhaftung Finkensteins auf ein Vermieterpfandrecht und behielt wegen ausstehender Mietzahlungen in Höhe von 613,99 RM die in der Wohnung belassenen ca. 2000 Bände ein. Im Februar 1937 ließ die Gestapo auch diese Bücher abholen. Das Pochen auf dem Vermieterpfandrecht bei der Polizei, mit dem Steffens die Herausgabe der Bücher verlangte, blieb erfolglos. Sie sind im Juni 1938 “im Einvernehmen mit dem Untersuchungsrichter, Herrn Oberlandesgerichtsrat Wolff, dem Sicherheitsdienst des Reichsführers SS – Unterabschnitt Kassel – zur Auswertung zur Verfügung gestellt worden. Es handelt sich um etwa 2000 Bücher.” Die ‚Beute‘ dieser Werke der klassischen Weltliteratur war dann zwischen den SS-Chargen in Berlin und Kassel strittig. Das Geheime Staatspolizeiamt Berlin forderte den gesamten Bestand an. Soweit man in Berlin an einzelnen Büchern kein Interesse habe, – so teilte man mit – “sei deren bisher vorgesehene Überlassung an den SD-Unterabschnitt Kassel des RFSS auch weiterhin vorgesehen.” Friedrich Herbordt, ein Freund Finkensteins, berichtete nach dem Krieg, dass ihm verschiedene Angehörige der Gestapo-Dienststelle (dort hatte er als politi­scher Schutzhaftgefangener nach seiner KZ-Haft ab 1943 Hilfsarbeiten zu verrichten) erzählten, “persönlich Bücher aus der Bibliothek Finkenstein in ihren Besitz gebracht zu haben”.

Zwei Jahre und vier Monate in Untersuchungshaft

Im Mai 1936 wurde Finkenstein aus dem Untersuchungsgefängnis in der Leipziger Straße, wo er seit Juli 1935 eingesperrt war,  in die Strafanstalt Kassel-Wehlheiden verlegt. Der Untersuchungsrichter hatte als Begrün­dung für das ein Jahr anhaltende Schreibverbot angegeben, dass Finkenstein im Besitz eines Morsealphabets gewesen sei und sich auf diesem Wege mit Gefangenen verständigt habe. In dieser Zeit wurde seine Woh­nung geräumt, seine umfassende Privatbibliothek konfisziert, es ver­schwanden die z.T. wertvollen Kunstwerke und Plasti­ken (wie, weiß man nicht), und kostbare zahnmedizinische Geräte und Instrumente seines großen Labors wurden unter Wert verscherbelt oder auf andere Weise weggebracht. Da von Einnahmen aus dem Labor nirgends die Rede war, ist anzunehmen, dass im Labor selbst bereits nicht mehr gearbeitet wurde. Mit Wirkung vom 21.10.1935 hatte es sein ehemaliger Angestellter W.H. allein auf seinen Namen umschreiben lassen. Die Umstände dieser Umschreibung sind unklar; es kann sich um eine Eigenmächtigkeit des W.H. gehandelt haben. Es kann auch von Finkens­tein veranlasst worden sein, um der drohenden Gefahr der Schließung oder ‘Übernahme’ eines ‘nichtari­schen’ Betriebes auszuweichen. Am 27.10.1936 wurde der Betrieb abgemeldet. Was vom Labor noch übrig geblieben war, übernahm Albert Schlegelmilch im Jahre 1938 und führte es bis in die Nach­kriegszeit weiter.

In wenigen Monaten war ein tätiger, angesehener und engagierter Mensch, der sich und andere durch seine eigene Arbeit ernährt hatte, in tiefe Armut gestürzt worden.

Urteil

Am 9. November 1937 wurde Kurt Finkenstein vom Strafsenat des Oberlandesgerichts in Kassel  wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens  zu einer Zuchthausstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten und dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von sechs Jahren verurteilt. Das Urteil entwarf von ihm das Zerrbild eines „jüdisch-kommunistischen“ Intellektuellen, der im Hintergrund seine „zersetzende Kritik des Nationalsozialismus“ betrieben habe. Seine Rolle käme der Stellung eines leitenden Funktionärs gleich. „Finkenstein ist nach alledem ein besonders gefährlicher Staatsfeind, der von Geburt an sich niemals als bejahender Staatsbürger in das Reich einfügen konnte und wollte, das ihm Gastrecht gewährte.“ Dieses Urteil sprachen die Oberlandesgerichtsräte Dr. Wolfram Faber,  Dr. Walter Heynatz, Dr. Heinrich Happel, Dr. Max Osberghaus und Amtsgerichtsrat Bulang. Untersuchungsrichter war der eng mit der Gestapo zusammenarbeitende OLG Friedrich Wolff.  Wolfram Faber war an 222 Verfahren des politischen Senats beteiligt und  hat z.B. gegen einen Kasseler Sozialisten im Jahre 1940 ein ähnliches Gesinnungsurteil gesprochen, von dem ein Kenner der damaligen Urteilspraxis  feststellte, dass es „handwerklich nicht einmal die Mindeststandards“ erfüllte und „eine völlige Identifikation mit der Ideologie des Nationalsozialismus wider(spiegelt). Es scheint hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen und der Würdigung nur eine unkritische Zusammenfassung von Gestapo-Berichten zu sein“ (Georg Falk).  Dies trifft auch auf das Urteil gegen Finkenstein zu. Keiner der genannten Richter ist übrigens nach 1945 für diese Urteilspraxis gerichtlich zur Verantwortung gezogen worden.

Erneut in Breitenau

Am 9. November 1943, auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Urteil und acht Jahre, drei Monate und siebzehn Tage nach seiner Verhaftung wurde Kurt Finkenstein aus dem Zuchthaus Kassel-Wehlheiden entlassen – nicht jedoch in die Freiheit, sondern zunächst für vier Tage ins Polizeigefängnis in Kassel am Königstor. Von dort wurde er am 13. November als Schutzhaftgefangener ins Gestapo-Straflager Breitenau verbracht. Das Konzentrationslager Breitenau, in dem er im Sommer 1933 eingesperrt gewesen war, war 1934 aufgelöst worden; an dessen Stelle war im Jahre 1940 ein Straf- und Sammellager der Gestapostelle Kassel getreten – beschönigend ‚Arbeitserziehungslager‘ genannt. Überwiegend ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die in irgendeiner Weise die Arbeit verweigert hatten, wurden dort für unterschiedlich lange Zeit, meist drei bis acht Wochen lang, inhaftiert. Aber auch deutsche Schutzhaftgefangene, über deren weiteres Schicksal die Berliner Behörden noch nicht entschieden hatten, wurden im Lager Breitenau festgehalten. Es traf die Ärztin Lilli Jahn, so auch Kurt Finkenstein.

Auschwitz

Am 8. Januar 1944 begann für Kurt Finkenstein von Breitenau aus ein siebentägiger Bahntransport, der am 15. Januar 1944 in Auschwitz endete. Unter der Nummer 172 266 wurde er im “Quarantäne-Bereich” im Lager Auschwitz-Birkenau aufgenommen. Aufgrund der katastrophalen Bedingungen konnten die Gefangenen den Quarantänebereich im Jahre 1944 nur wenige Wochen überleben. Kurt Finkenstein wurde nach neun Tagen in den Block 12 im “Häftlings-Krankenbau” eingewie­sen.

Fünf Tage später, am 29. Januar 1944, endete sein Leben in Auschwitz-Birkenau.

Postscriptum

Käte Westhoff fand nach dem Krieg als Verwaltungsangestellte der Stadt Kassel Arbeit. Sie erreichte im Jahr 1948 die nachträgliche Eheschließung, die die judenfeindlichen Gesetze des NS-Staates ihr und Kurt verwehrt hatten. Seitdem führte sie den Geburtsnamen ihres Mannes Funkenstein. Sie lebte in einer kleinen Wohnung in der Kasseler Nordstadt. Sie starb in Kassel am 14. Dezember 1990.

Eine Gedenktafel an der Außenmauer des ehemaligen Untersuchungsgefängnisses in der Leipziger Straße 11 und ein Stolperstein vor dem Haus in der Karthäuserstraße 5 ½ erinnern heute in Kassel an Kurt Finkenstein und Käte Westhoff.

Käte Funkenstein, geb. Westhoff gewährte in den 1980er Jahren den Studentinnen Ellen Gruska und Monika Nentwig im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit an der Universität (damals: Gesamthochschule) Kassel Einblick in seine in der Haft geschriebenen Briefe. Sie hatte sie als Kleinod und als ein Zeugnis besonderer Art aufbewahrt. Die Originale der Briefe wurden nach dem Tod von Käte Funkenstein dem Archiv der Gedenkstätte Breitenau in Guxhagen/ Schwalm-Eder-Kreis übergeben.

Die beeindruckenden Briefe Finkensteins liegen in zwei Ausgaben (siehe Literaturverzeichnis) veröffentlicht vor.

Dietfrid Krause-Vilmar

Siehe auch die neue Publikation des Autors:

Dietfrid Krause-Vilmar (Hg.), Kurt Finkenstein. "Ich bin zu brechen, aber nicht zu biegen." Briefe und Gedichte aus der Haft, Berlin 2016 (ISBN: 978-3-95565-160-2)

Quellen- und Literaturverzeichnis (Auswahl)
Ungedruckte Quellen

Archiv Breitenau, Guxhagen (Schwalm-Eder-Kreis)

B-536. Briefe Kurt Finkensteins 1935-1943.

Bundesarchiv Berlin.

Bestand Reichsjustizministerium: ZC 11910

Hessisches Staatsarchiv Marburg: 165/3821.

Hessisches Justizministerium Wiesbaden

Regierungspräsidium Darmstadt. Entschädigungsakte Finkenstein/Funkenstein I 18 - K 1016.

Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen

Bestand 2. Nr. 7630. Auf­nahme­buch für Häftlinge während Beste­hens des Konzen­trations­lagers 1933-1934. / Landarmen- und Korrektionsanstalt Breitenau 1874-1949 (1976). Bestand 2. Nr. 7633. Aufnahmebuch Breitenau für Schutzhäftlinge, Altersheiminsassen, Korrigenden, Häuslinge u.a. 1895-1945.

Stadtarchiv Kassel

INN 11891 Materialsammlung Dietfrid Krause-Vilmar

JVA Kassel[-Wehlheiden]

Erinnerungen des ehemaligen Anstaltspfarrers Adolf Dörmer (Aufzeichnungen).

Mündliche Mitteilungen:

Käte Funkenstein geb. Westhoff (1983-1990) / Heinrich Rappe (2000) / Martha Schlegelmilch Kassel (1999, 2001) / Arno Siebert Kassel (1999)

Literatur

Falk, Georg: Entnazifizierung und Kontinuität. Der Wiederaufbau der hessischen Justiz am Beispiel des Oberlandesgerichts Frankfurt a.M. Kapitel II.2 (erscheint 2017).

Lewandowski, Herbert: Kurt Finkenstein. In: Lee van Dovski: Eros der Gegenwart. Quasi ein III. Band von “Genie und Eros”. Genf 1952, 94-108.

Gruska, Ellen und Monika Nentwig: Kurt Finkenstein – Ein Leben für die Befreiung der Menschheit. Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit. Gesamthochschule Kassel. 1984.

Kurt Finkenstein, Briefe aus der Haft 1935-1943. Herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Dietfrid Krause-Vilmar. Mitarbeit: Susanne Schneider. Kassel 2001 (dort das vollständige Quellen- und Literaturverzeichnis, S. 416 ff).

In Kassel ist für Kurt Finkenstein ein Stolperstein verlegt. Hier finden Sie eine Kurzbiografie.

Am ehemaligen Untersuchungsgefängnis, der „Elwe“, erinnert eine Tafel an ihn und seine Frau Käthe Westhoff

Seine Briefe aus der Haft sind von Dietfrid Krause-Vilmar publiziert worden. Das Buch ist online verfügbar.