Die Sinai-Loge (Unabhängiger Orden Bne Briss - UOBB)
Die Kasseler Juden verfügten über eine Vielzahl von Vereinen und Organisationen, in denen sie unter sich waren. Wolfgang Prinz zählt für das Jahr 1925 etwa 40 Vereine. Ein großer Teil der Gemeindemitglieder war hier freiwillig engagiert, die Betätigung dort Teil dessen, was für sie Heimat ausmachte. Die Vereine deckten sämtliche gesellschaftlichen Bedürfnisse ab, so dass man, wie Julius Dalberg schrieb, in den 1920er Jahren von einer jüdischen Gesellschaft sprechen konnte. Neben wenigen religiösen Vereinen gab es Wohltätigkeits- und soziale Vereine, Geselligkeits- und Bildungsvereine bzw. –einrichtungen, Jugendvereine und –bünde, Sportvereine und politische Vereinigungen. Frauen organisierten sich unter anderem im Israelitischen Frauenverein, waren aber darüber hinaus vor allem im sozialen und kulturellen Bereich besonders engagiert. Viele Frauen und Männer lebten ein solches Engagement nicht nur im jüdischen Bereich, sondern auch in nicht-jüdischen Gesellschaften und Vereinen.
Ein Männerbund von besonderer Bedeutung war der Unabhängige Orden Bne Briss (UOBB), der in Deutschland nach amerikanischem Vorbild 1882 gegründet worden war und dem von 1924 bis zu seinem Verbot 1937 Leo Baeck als Präsident vorstand. In Kassel erfolgte die Gründung der Sinai-Loge 1888. Sie wurde rasch zu einem der Zentren gesellschaftlichen Lebens. Ihre Hauptaufgaben sah sie über Parteigrenzen und politische Orientierung hinweg auf kulturellem Gebiet sowie der Wohlfahrts- und Jugendpflege. So veranstaltete die Kasseler Loge Wohlfahrtskonzerte, gab Schriften zur jüdischen Geschichte oder Volkskunst heraus oder gründete eine Ferienkolonie, in der sich Kinder aus ärmeren jüdischen Familien erholen konnten, oder organisierte Veranstaltungen auch in den ländlichen Gemeinden zum Judentum.
Im § 1 der Satzung hieß es:
„Die am 9. Dezember 1888 gegründete Loge führt den Namen ‚Sinai-Loge XXIV Nr. 378‘ und hat ihren Sitz in Kassel.
Sie erstrebt die geistige und sittliche Fortentwicklung ihrer Mitglieder und der jüdischen Gemeinschaft überhaupt. Sie will die reinsten Grundsätze der Menschenliebe pflegen, den Sinn für Ehre, für Wohltätigkeit und gemeinnütziges Wirken anregen. Ihre materiellen Mittel verwendet sie regelmäßig nur für wohltätige, gemeinnützige und kulturfördernde Zwecke.
Den Mitgliedern sollen aus ihrer Zugehörigkeit zur Loge keinerlei materielle Vorteile erwachsen.
Die Erörterung politischer und religiöser Parteifragen ist ausgeschlossen.“ (StadtA Kassel S3 264)
Die Sinai-Loge war eine weitgehend elitäre Vereinigung. Die Mitgliedschaft, die man nur in einem prüfenden Aufnahmeverfahren erlangen konnte, war eine Statusfrage. Mit der Aufnahme gelangte man in den Kreis der angesehenen Kasseler Familien.
Eine im Stadtarchiv überlieferte Liste der immer noch etwas mehr als 100 Mitglieder der Loge vom Dezember 1934 zeigt einen hohen Anteil von Männern aus dem Vorderen Westen, dem bürgerlichen Wohnviertel, das auch von jüdischen Familien besonders geschätzt wurde. Fast jedes dritte Mitglied der Loge wohnte hier.
Zu ihnen gehörten in den 1930er Jahren unter anderem der Lehrer an der jüdischen Schule und Kantor Walter Bacher, der Arzt Dr. Felix Blumenfeld, der Rechtsanwalt Dr. Theodor Dellevie, der ehemalige Bankier Alexander Fiorino, der Rechtsanwalt Dr. David Goldschmidt (1937 Vizepräsident), der Bankdirektor Max Ikenberg, der Fabrikant Fritz Mosbacher (dessen Bruder Hans der letzte Präsident war), der Baurat a. D. Siegfried Fraenkel, der Reichsbahnbaurat Fritz Ucko und der Architekt Hermann Sichel. Die Sinai-Loge wurde 1937 aufgelöst. Der gesamte Vorstand der Loge wurde in diesem Zusammenhang verhaftet, musste die Auflösungsanordnung unterschreiben und die Finanzen der Loge überprüfen lassen.
Walter Bacher und Max Ikenberg fielen dem Völkermord in Buchenwald bzw. Auschwitz zum Opfer, Siegfried Fraenkel wurde in Treblinka ermordet. Dr. Felix Blumenfeld kam einem solchen Schicksal durch Freitod zuvor.
Walter Bacher
Das Mitglied der Sinai-Loge lebte von 1926 bis 1941 in der Wilhelmshöher Allee 40. Über ihn heißt es im Gedenkbuch der Stadt Kassel:
"Walter Bacher war Angestellter der Jüdischen Gemeinde in Kassel. Im Hauptberuf Lehrer an der Israelitischen Volksschule, übte er wie viele seiner Kollegen auch das Amt das Kantors an der Synagoge in der Unteren Königsstraße aus. Er war Pädagoge aus Berufung, bei seinen Schülern sehr beliebt und unterrichtete auch an der Schule der Jüdischen Jugend, einer Art Volkshochschule, in Kassel. Sein ganzer Einsatz galt der zionistischen Idee. Nach der Machtergreifung Hitlers erteilte er Hebräischunterricht an Kasseler Juden die sich auf die Emigration nach Palästina vorbereiteten. 1936 bereiste er das Land, kehrte aber nach Deutschland zurück. Nach den Novemberpogromen 1938 versuchte er vergeblich auszuwandern. Am 12. Januar 1941 vestarb seine Frau.
Walter Bacher wurde am 9. Dezember 1941 in das Ghetto Riga deportiert und erteilte dort zusammen mit Baruch Kleeblatt Unterricht an jüdische Kinder aus Kassel. Nach der Auflösung des Ghettos wurde er aus Riga deportiert und verstarb am 19.12.1944 im Konzentrationslager Buchenwald."
Quellen und Literatur
StadtA Kassel S3 263 und 264
StadtA Kassel S10 368
Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck (versch. Jg.)
Wolfgang Prinz, Die Judenverfolgung in Kassel, in: Frenz / Kammler / Krause-Vilmar, Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Bd. 2, Fuldabrück 1987, S. 136ff.
Namen und Schicksale der Juden Kassels, Kassel 1986