Sozialer Aufstieg - Familie Goldschmidt
David Goldschmidt lebte mit seiner Familie von 1914 bis 1939 im Haus Kirchweg 80, Ludwig Goldschmidt mit seiner Familie mehrere Monate vor seiner Emigration 1939 im Haus Kirchweg 72.
Sozialer Aufstieg
Die Biografien der beiden Brüder und Rechtsanwälte stehen für genutzte Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs jüdischer Familien, die ihnen die gesellschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts und vor allem die endgültige Emanzipation der Juden 1871 bot.
Die Familie stammte aus Hoof, der zusammen mit Breitenbach größten jüdischen Gemeinde des Landkreises mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von 16% in den 1860er Jahren. Dort sicherte der Großvater der beiden, David Goldschmidt (1803-1881), den Lebensunterhalt der Familie als Großviehhändler und gehörte damit zur jüdischen Oberschicht des Dorfes. Dessen Sohn Jacob (1852-1923) entfloh bereits in jungen Jahren der dörflichen Enge, wie es in den Lebenserinnerungen seines Sohnes David aus dem Jahr 1961 heißt:
„Mein Vater hatte zunächst nur die Bildung eines Dorfvolksschulkindes, der sich aufgrund seiner Begabung und Tüchtigkeit weitergebildet hat und der schon in jungen Jahren bestrebt war, aus dem engen und sicherlich auch ärmlichen Dorfmilieu herauszukommen. Es ist bald nach Kassel gezogen und hat dort ein Herrenmaßschneidergeschäft eröffnet, obwohl er selbst vom Schneiderhandwerk nicht viel verstanden hat; er hat aber die Gabe und das Glück gehabt, immer einen tüchtigen Zuschneider angestellt zu haben.“
Jacob Goldschmidt ging bei Sigmund Aschrott in die Lehre und eröffnete spätestens 1886 sein eigenes Geschäft, in dem später auch Damengarderobe maßgeschneidert wurde und das nach seinem Tod ein Sohn weiter führte.
Die Söhne David und Ludwig schlugen den Weg ins akademische Bildungsbürgertum ein. Der 1883 geborene David bestand als einer der wenigen jüdischen Schüler am Wilhelmsgymnasium das Abitur, studierte danach Jura in München, Berlin und Marburg und schloss dies mit der Promotion 1909 bei Prof. Schücking in Marburg ab ab. 1910 ließ er sich in Kassel als Anwalt nieder, obwohl er gerne Richter geworden wäre. Für jüdische Juristen war es aber – trotz rechtlicher Gleichstellung – kaum möglich, in den Staatsdienst zu gelangen. David Goldschmidt schreibt dazu in seinen Lebenserinnerungen: „Ich hätte gerne die Richterlaufbahn gewählt; aber dann hätte ich noch einige Jahre meinem Vater auf der Tasche liegen müssen; hinzu kam, dass es damals für einen Juden recht schwer – wenn auch nicht unmöglich – war, als Richter vorwärts zu kommen. Und so habe ich mich für den Anwaltsberuf entschlossen und am 1. September 1910 als Rechtsanwalt in Kassel niedergelassen.“
Neben seiner sehr erfolgreichen Anwaltstätigkeit leitete David Goldschmidt Repetitoriumskurse, in denen er angehende Juristen auf die Staatsprüfung vorbereitete. Aus dem Bereich Kassel nahmen fast alle Referendare daran teil – unter ihnen auch Roland Freisler. 1924 wurde er zum Notar ernannt. Er war darüber hinaus auch als Syndikus des Verbandes der Handelsvertreter tätig und redigierte in den 20er Jahren die juristische Beilage des Kasseler Tageblattes. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft gehörte der Anwalt der Sinai-Loge an, zuletzt als Vizepräsident.
Der Lebensweg des 1895 geborenen Ludwig Goldschmidt verlief über Jahrzehnte ähnlich. Auch er besuchte das Wilhelmsgymnasium, wo er 1914 die Reifeprüfung bestand, um danach an den gleichen Universitäten wie sein Bruder zu studieren; unterbrochen durch die dreijährige Teilnahme am Ersten Weltkrieg und abgeschlossen mit einer Dissertation. Auch Ludwig Goldschmidt wäre gerne Richter geworden, ließ sich aber 1925 in Kassel als Anwalt nieder und trat in die Kanzlei seines Bruders David ein, die sich zunächst in der Spohrstraße 1, später in der Spohrstraße 2 befand. 1932 wurde er wie sein Bruder zum Notar bestellt. In der jüdischen Gemeinde engagierte sich Ludwig Goldschmidt auch nach 1933 stark als Mitglied des Vorstandes der Israelitischen Gemeinde, Leiter ihres Wohlfahrtsamtes und Rechtsberater, zudem als stellvertretender Vorsitzender der bedeutenden Meier-Bär-Mond-Stiftung.
Entrechtung und Vertreibung
Die ersten Maßnahmen der Nationalsozialisten, nachdem sie an der Macht waren, zielten auf jüdische Rechtsanwälte, denen man die Ausübung ihres Berufs untersagen wollte. Den Brüdern Goldschmidt gelang es als „Altanwalt“ bzw. als Frontkämpfer dies zu verhindern. Dennoch gab es in die Arbeit der Kanzlei einen gravierenden Einschnitt. David Goldschmidt beschreibt diesen in seinen Lebenserinnerungen: „Als die Hitlerzeit kam, änderte sich der Charakter unserer Praxis insofern, als die christlichen Auftraggeber – vor Hitler hatte ich mehr christlichen als jüdische Klienten – wegblieben; aber es gab dann bald trotzdem oder gerade wegen der völlig veränderten Rechtsverhältnisse für Juden und jüdische Geschäfte viel zu tun.“ Im Juni 1933 entzog man ihm das Notariat und auch die Tätigkeit als Repetitor konnte er nicht fortsetzen. Ludwig Goldschmidt durfte nicht mehr vor Gericht auftreten und auch ihm entzog man 1935 das Notariat.
David Goldschmidts Tochter Lisel ging nach dem Abitur 1934 nach Stockholm. Als Mitglied des Kuratoriums der Meier-Bär-Mond-Stiftung war ihr Onkel Ludwig später maßgeblich daran beteiligt, dass das Kapital der Stiftung auch für Maßnahmen genutzt wurde, die Voraussetzungen für die Auswanderung schaffen sollten. Nach den Erinnerungen des letzten Rabbiners Robert Raphael Geis verhalf er Hunderten zur Auswanderung.
Im Zuge des Novemberpogroms 1938 wurde Geis ebenso verhaftet und in Buchenwald inhaftiert wie die beiden Brüder Goldschmidt. David Goldschmidt ereilte dieses Schicksal in Frankfurt. Dort befand sich seine schwerkranke Frau im jüdischen Krankenhaus, „da kein Krankenhaus in Kassel Juden aufnehmen durfte, wollte oder konnte“, wie sich die Tochter erinnert, die über die Auswirkungen der dreiwöchigen Haft im KZ auf ihren Vater schreibt: „Der bittere resignierte Mann, der 1939 nach Schweden kam (…) hatte nicht mehr viel gemeinsam mit dem früheren Bild seines Selbst.“ Er war „mit einemmal – und er war damals erst 56 Jahre alt – zu einem gebrochenen, unsicheren, in sich gekehrten Mann herangealtert. (…) Mein Vater hat körperlich keinen Schaden genommen (…), aber etwas in seiner Seele wurde vernichtet.“ Im Anschluss an den Pogrom mussten die Brüder Goldschmidt wie alle noch verbliebenen jüdischen Anwälte am 30.11.1938 ihre Kanzlei schließen, die von Ludwig abgewickelt wurde.
David Goldschmidt gelangte im Februar 1939 zu seiner Tochter nach Stockholm, seine Frau einen Monat später. Zuvor hatte die Familie etwa 60.000 RM an Judenvermögensabgabe, Reichsfluchtsteuer und anderen Abgaben zu entrichten. Ohne Sprachkenntnisse gelang es dem Juristen nicht, in Schweden beruflich Fuß fassen. Ludwig Goldschmidt konnte der weiteren Verfolgung gerade noch zu Kriegsbeginn 1939 mit seiner Frau Lieselotte und der sechsjährigen Tochter Yvonne nach England entkommen, wo es ihm gelang, für den Lebensunterhalt der Familie zu sorgen.
Exil und Rückkehr
David Goldschmidt konnte nie ganz seine Bitterkeit loswerden über das eigene Schicksal und das Schicksal zahlreicher Familienangehörigen, die ermordet worden waren - darunter ein Bruder. Ein Angebot der hessischen Justizverwaltung, nach Deutschland zurückzukehren, lehnte er ab. In Schweden war er an der Herausgabe eines deutsch-schwedischen Juristenlexikons beteiligt und Mitarbeiter eines Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts. Er starb 1964.
Ludwig Goldschmidt, dem es nie gelungen war, „innerlich von seiner Heimatstadt loszukommen“, wie seine Nichte Lisel Kahn schreibt, nahm dagegen das Angebot an, in Kassel als Richter am Oberlandesgericht tätig zu sein, und konnte damit seinen ursprünglichen Wunsch erfüllen, Richter zu werden. In Kassel arbeitete er von 1948 bis 1951 als Oberlandesgerichtsrat und gehörte auch dem Verwaltungsgerichtshof an. Danach wurde ihm das Amt eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht in Frankfurt übertragen, das er bis zum Eintritt in den Ruhestand 1966 ausfüllte. Seit 1959 war er zudem richterliches Mitglied und seit 1960 Vizepräsident des Hessischen Staatsgerichtshofs. Die Verleihung des Großen Bundesverdienstkreuzes würdigte 1965 seine Verdienste um den Aufbau einer demokratischen Justiz, sein ausgleichendes und versöhnendes Wirken.
Ludwig Goldschmidt starb im Mai 1970. Ein Grabstein auf dem neuen jüdischen Friedhof seiner Heimatstadt erinnert an ihn.
Quellen und Literatur
StadtA Kassel S3 264 (Sinai-Loge)
StadtA Kassel A5.55 (Wiedergutmachung)
StadtA Kassel S1 1206 (David Goldschmidt)
Dietrich Heither / Wolfgang Matthäus / Bernd Pieper, Als jüdische Schülerin entlassen, 2. Aufl. Kassel 1987
Magda Thiering, Sein statt Schein. Anmerkungen zum Lebensbild eines herausragenden Menschen. Dr. Ludwig Goldschmidt (1895-1970), in: Jahrbuch des Landkreises Kassel 2004, S. 141ff.
Martina Schröder-Teppe, Wenn Unrecht zu Recht wird … . Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Kassel nach 1933, Kassel 2006