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Paul Lieberknecht

„1886 - 1947, Pfarrer an der Kreuzkirche 1925 - 1941
Mitbegründer der "Bekennenden Kirche", im Nationalsozialismus verfolgt,
stand in der NS-Zeit verfolgten Christen jüdischer Herkunft bei“

heißt es auf den Straßenschildern, die seit 2020 auf den Paul-Lieberknecht-Weg zwischen Luisenstraße und Wilhelmshöher Allee hinweisen.

Pfarrer Lieberknecht lebte seit 1926 im Vorderen Westen: zunächst in der Parkstraße 26, seit 1933 am Kaiserplatz 26 (heute Goethestraße), 1942 vorübergehend in der Hohenzollernstraße 90 (Friedrich-Ebert-Straße), ehe er im gleichen Jahr in die Meysenbugstraße 3 zog. Seit 2019 ehren eine Gedenktafel in der Kreuzkirche sowie die Benennung des Weges zwischen Kreuzkirche und der Wilhelmshöher Allee den aufrechten Gegner des Nationalsozialismus, dessen Wirken lange – auch von seiner eigenen Kirche – vergessen oder gar verschwiegen wurde.

Annemarie Hoffa, ehemalige Schülerin der Malwida von Meysenbug-Schule (heute Heinrich-Schütz-Schule), die am 11. November 1938 „als jüdische Schülerin entlassen“ wurde, erinnert sich 1984 in einem Brief an den Verfasser an den standhaften Pfarrer, der sie und ihren Bruder Wilhelm noch 1938 entgegen allen Widerständen konfirmiert hatte:

„Unsere Eltern waren evangelisch und wir wurden auch evangelisch getauft, erzogen und konfirmiert. Wilhelm und ich hatten Konfirmandenstunden in Kassel, gemeinsam mit anderen Kindern bis zu einem Zeitpunkt (politisch gezwungen oder um das Studium zu beschleunigen?), an dem wir zu Pfarrer Lieberknecht ins Haus gingen und er uns Privatstunden gab – die jedes Mal damit anfingen, dass der liebe Herr eine Kaffeehaube über das Telefon legte. Wir wurden dann privat konfirmiert; eingeladene Gäste waren die engste Familie, ein paar treue Freunde und meine Patentante, Frau Dr. Käthe Heinemann; Uneingeladene die Gestapo, welche mit lauten Schritten und Krach dem Schauspiel beiwohnte.“ (Als jüdische Schülerin entlassen, S. 138)

Paul Lieberknecht war hier einer konsequenten Haltung gefolgt, die er seit dem Beginn der NS-Herrschaft einnahm. Mit der Familie Hoffa stand er einer im Kasseler Bürgertum integrierten und angesehenen Familie bei, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurde und im Visier der Gestapo war, bis sie 1939 nach Chile auswandern konnte.

Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns am 6. Februar 1886 in Eschwege geboren, studierte Lieberknecht nach dem Abitur in Eschwege Theologie in Berlin und Marburg, war dann als Vikar und Hilfspfarrer in Hofgeismar und Bad Hersfeld sowie als Studieninspektor in Hofgeismar tätig.* Er war 1912 ordiniert und zudem später mit einer Lizensiatenarbeit über die „Geschichte des Deutschkatholizismus in Kurhessen“ promoviert worden. Aus der ersten, 1913 geschlossenen Ehe mit Charlotte Huvendick gingen die drei Kinder Ruth, Anneliese und Erich hervor.

Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er als Seelsorger in Lazaretten Dienst tat, trat er der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) bei und wurde deren Vorsitzender in Hofgeismar. Diese ausdrückliche Parteinahme für die junge Demokratie machte ihn bei manchen zum „Roten Pfarrer“. 1920-1925 arbeitete Lieberknecht als Pfarrer in Köln, ehe er eine freiwerdende Stelle an der Kreuzkirche im Vorderen Westen annahm und dort bis 1941 tätig war.

Gegenüber dem Nationalsozialismus und dessen Anhängern in der Kirche in Kassel nahm Lieberknecht eine zutiefst religiös (wahrscheinlich auch politisch) begründete, konsequent oppositionelle Haltung ein, die das besondere Augenmerk der Gestapo auf sich zog. Er stand, wie Krause-Vilmar schreibt, gemeinsam mit anderen ihrer Mitgründer vor Ort mitten im Kampf der Bekennenden Kirche, des Bruderrats und Pfarrernotbundes gegen das Vordringen völkischer Umformungen des christlichen Glaubens durch nationalsozialistisch eingestellte Amtskollegen“, die sich den Deutschen Christen (DC) angeschlossen hatten. Für die Nazis galt er einem Bericht der Gestapostelle Kassel vom 18. September 1934 nicht einfach als „Mitläufer“, sondern als einer derjenigen, „die gesonnen sind, den Kampf bis zum Ende durchzuführen.“

Dabei ging der Riss innerhalb der Kirche (seit 1934 Evangelische Kirche von Kurhessen und Waldeck) auch durch die Gemeinde, an der er tätig war. Hier hatte es Lieberknecht mit dem Amtsbruder Karl Theys zu tun, der sich in einem illegalen Akt von der NSDAP zum Landesbischof einsetzen ließ, und auch mit einem Gemeindevorstand, in dem die Nationalsozialisten gleichfalls Einfluss ausübten. Lieberknecht war Denunziationen und Anfeindungen ausgesetzt, seine Arbeit für die Bekennende Kirche versuchte man, in den eigenen Gemeinderäumen zu unterbinden.

Lieberknechts besondere Fürsorge und Beistand galten evangelischen Christen, die auf Grund ihrer jüdischen Abstammung verfolgt wurden. Nachdem der evangelische Pfarrer Grüber 1938 in Berlin eine „Kirchliche Hilfsstelle für evangelische Nichtarier“ gegründet hatte mit dem Zweck, Glaubensgenossen, die wegen ihrer jüdischen Herkunft unter dem NS-Regime verfolgt werden, Wege zur Auswanderung aufzuzeigen, und in 20 großen Städten des Deutschen Reiches Außenstellen des „Büros Grüber“ entstanden, wurde Lieberknecht zu einem der Vertrauensleute vor Ort, der – wie im Fall Hoffa – „nichtarischen Christen“ zur Seite stand. Für die Konfirmation der beiden Kinder stellte ihn das übelste der nationalsozialistischen Hetzblätter, „Der Stürmer“ unter der Überschrift „Was das Volk nicht verstehen kann“ an den Pranger: „Der evangelische Pfarrer Lieberknecht konfirmierte am 24. Dezember 1938 in der Kreuzkirche in Kassel die volljüdischen Geschwister Hoffa aus Sandershausen. Die für Ostern 1939 vorgesehene Konfirmation erfolgte im Dezember 38, weil die Juden Anfang des Jahres 1939 auswandern wollten.“ (Der Stürmer 24/1939 – das Datum der Konfirmation entspricht nicht den Erinnerungen Annemarie Hoffas). Auch in einer Versammlung in der Stadthalle wurde Lieberknecht öffentlich als „Judenknecht“ herabgewürdigt.

Das hielt ihn nicht davon ab, sich auch weiterhin für Christen jüdischer Herkunft einzusetzen, was ihm die „heimliche Überwachung all seiner Wege, Versammlungen, Predigten und Handlungen“ einbrachte, wie eine Mitarbeiterin von ihm nach dem Krieg aussagte. Dazu gehörte unter anderem das Ehepaar Demme. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde in der jüngeren Vergangenheit vor allem die Unterstützung und Hilfe, die Paul Lieberknecht und seine zweite Frau Maria Lilli Jahn und ihren Kindern zukommen ließ. Dazu äußerste sich Gerhard Jahn, der Älteste unter den fünf Kindern Lilli Jahns und spätere Bundesjustizminister bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor der Spruchkammer so:

„Ich, Gerhard Jahn, erkläre hiermit an Eidesstatt: Meine Mutter, Lilli Jahn, geb. Schlüchterer war Jüdin. Am 30. August 1943 wurde sie von der Gestapo Kassel verhaftet und ‚starb‘ im Jahre 1944 im K.Z. Auschwitz. Unter den wenigen Menschen, die ihr in den letzten Jahren, in denen sie noch zu Hause war, beistanden, bemühte sich vor allem Pfarrer Lieberknecht und seine Frau um sie. Trotz aller Gefahren, denen sie sich dabei aussetzten, halfen sie meiner Mutter, wo sie nur konnten und standen ihr mit Rat und Tat jederzeit zur Seite.
Als meine Mutter verhaftet worden war, setzten sich Herr und Frau Lieberknecht sehr für meine vier jüngeren Schwestern und mich ein. Bei ihnen fanden wir jederzeit in diesen schweren Monaten und Jahren Rat und Hilfe. Bei allen Schwierigkeiten halfen sie uns. Unter persönlichem Einsatz bewahrten sie uns vor der Gefahr der Verhaftung (…). Dass wir fünf Geschwister so das National-Sozialistische Regime überstehen konnten, verdanken wir zum größten Teil Herr und Frau Pfarrer Lieberknecht.“
(zit. nach Burckhardt, S. 29f.)

Dabei befand sich Lieberknecht „in dieser Zeit in einer persönlich außergewöhnlich schwierigen Situation“, schreibt Krause-Vilmar. „Als politischer Gegner war er vom Sicherheitsdienst und der Gestapo im Visier und zugleich bedroht, in seiner eigenen Kirchengemeinde wurde er angefeindet und denunziert und die Ehe mit Charlotte Lieberknecht war seit vielen Jahren, wenn nicht schon zwei Jahrzehnten, gestört und zutiefst zerrüttet, so dass er keinen anderen Weg als den der Trennung von seiner Frau sah.“ (Das Gewissen, S. 15f.) Bei der Kirche fand er dafür kein Verständnis und wurde offenkundig vor die Wahl gestellt, entweder in der Ehe zu verbleiben oder aus dem Amt auszuscheiden. Lieberknecht legte sein Amt nieder, die Ehe wurde im April 1942 geschieden, im August heiratete er Maria Balke. Schließlich führten die für ihn wohl unerträglichen Umstände zu seinem Austritt aus der Kirche, worin die Gestapo allerdings wohl nur einen taktischen Schritt sah und ihn wie zuvor überwachte. Das materielle Überleben konnte sich Lieberknecht durch eine Tätigkeit in der Murhard’schen Landesbibliothek sichern.

Nach dem Ende des Krieges scheiterten seine Versuche, wieder im Pfarrdienst tätig zu werden, an der unversöhnlichen Haltung der Landeskirche. Noch schlimmer wurde es für ihn, als seine Integrität durch Verleumdungen zutiefst verletzt wurde, die auch vom Landeskirchenamt weiter verbreitet wurden. Ohne jegliche Begründung und Belege und ohne dass der Urheber je ermittelt werden konnte, wurde behauptet, Lieberknecht hätte sich in den letzten Jahren des Krieges den Nazis angenähert. Gegenüber der amerikanischen Militärregierung verstieg sich das Landeskirchenamt zu der ungeheuerlichen Behauptung, er sei „durch Unterstützung der Gestapo oder der SS in das alsbald übernommene Amt eines Bibliothekars an der hiesigen Landesbibliothek gekommen“. (zit. nach Kraus-Vilmar, Das Gewissen, S. 22)

Lieberknecht gründete eine „evangelische Notgemeinde“, deren Institutionalisierung jedoch am Widerstand der Kirche scheiterte. In der Meysenbugstraße 3 und später in der Lindenstraße 21 traf sich ein Kreis derjenigen, die ihm treu geblieben waren und seine Predigten in schwerer Zeit hören wollten. Unter ihnen weiterhin Christen jüdischer Herkunft. Ohne rehabilitiert worden zu sein, starb der aufrechte Pfarrer bereits 1947.

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis ihm in der Kreuzkirche ein Würdigung zuteil wurde, was insbesondere auch der Initiative von Mechthild-Veronika Burckhardt zu verdanken war. Im September 2019 wurde im Rahmen einer feierlichen Gedenkveranstaltung, an der auch Bischof Martin Hein teilnahm, im Kirchenraum eine Gedenktafel eingeweiht, die an den Pfarrer erinnert.

Literatur


*) Die Ausführungen zur Biografie folgen weitgehend den Forschungen von Mechthild-Veronika Burckhardt und Dietfrid Krause-Vilmar, vor allem seinen Ausführungen in „Das Gewissen des Pfarrers Paul Lieberknecht“.